6. Die singende Besenbinderstochter.

[482] Es war einmal ein armer Besenbinder im Lande Portugal, der hatte eine einzige Tochter, die wunderschön singen und die Harfe spielen konnte. Seine Hütte lag dicht bei dem Palaste des Prinzen, und dieser hörte oftmals den schönen Gesang, wenn er vor der Thür seines Schlosses saß. Zuletzt setzte er sich jeden Abend vor die Thür; nach einiger Zeit bat er den Besenbinder, alle Abend in sein Haus kommen und dem Gesange lauschen zu dürfen, und endlich nahm er, trotzdem daß seine Verwandten es ungern sahen, den Vater und die Tochter in seinen Palast. Als nun des Prinzen Jahrestag gefeiert wurde und viele Sänger und Spieler ihre Kunst aufs beste wiesen, sang und spielte doch die Besenbinderstochter am schönsten von Allen. Da erklärte der Prinz, der sie schon lange liebte, vor Allen, er werde sie zu seiner Frau nehmen. Und so that er auch.

Bald darauf brach ein Krieg mit den Türken aus und der Prinz wurde schon nach der ersten Schlacht gefangen genommen. Als das seine Gemalin hörte, legte sie Pilgerkleider an, nahm ihre Harfe und fuhr auf einem Schiffe nach Constantinopel. Sie sang in den Höfen ihre Lieder für ein Almosen. Da feierte der Sultan ein großes Fest, bei dem alle Sänger und Sängerinnen des Landes erscheinen mußten. Da sang der arme Pilger am schönsten unter Allen, so daß der Sultan ihm gestattete, einen Wunsch auszusprechen. Der Pilger verlangte die Freiheit des Prinzen und der Sultan mußte es gewähren. So kehrte der Prinz nach Portugal zurück, den Pilger aber behielt der Sultan bei sich.

Als der Prinz heimkehrte, wurde seine Gemalin von seinen Verwandten schändlich verleumdet. Sie aber lebte bei dem Sultan traurige Jahre; alle Tage ging sie ans Ufer, um zu sehen, ob nicht ein Schiff aus der Heimat komme. Endlich kam eines, und es gelang ihr, heimlich zu entfliehen. In Portugal aber wurde sie ins Gefängniß geworfen und durfte nur ihre Harfe mit hineinnehmen. Oftmals hörte[482] der Prinz ihre Lieder, aber er glaubte den Verleumdern und blieb ungerührt. Da hörte er sie einst ein Lied singen von dem Pilger, dem er seine Befreiung verdankte. Er ließ sie fragen, was sie davon wisse, und nun erzählte sie ihm, daß sie der Pilger gewesen war. Sie wurde nun aus dem Gefängniß befreit und wieder des Prinzen liebes Gemal, ihre Verleumder aber erfuhren die gerechte Strafe.


Ein Seminarist in Neukloster.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 482-483.
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