IX. Capitul.
Wunderliches Taubenschießen. Sie discurrieren von den alten Einsiedlern und ihrer Pönitenz.

[675] Verstandenermaßen so war ich zu Ollingen bei der scharfen Execution dieser vier Straßenräuber gewesen, welche elend genug hingerichtet worden, habe auch in selbiger Stadt eine ziemliche Zeit mit guten Freunden zugebracht, daß ich über Nacht, ehe die Execution vorbeigegangen, darinnen geblieben und also fast in die vierundzwanzig Stunden mich außer meinem Schlößlein aufgehalten habe. Den vorigen Discurs führte ich mit meinem Studenten, da wir wieder heimwärts ritten, weil man sich nach solchen Zufällen mit dergleichen Unterredungen gemeiniglich zu unterhalten pfleget. Und[675] also kamen wir am Mittage wieder nacher Haus, allwo uns das Essen trefflich wohl schmeckte. Nach solchem war ich willens, eine andere Geige samt einem neuen Instrument aus der Stadt holen zu lassen. Der Student aber solle zu seiner Buße, daß er solche zerschlagen, anstatt des davongelaufenen Schreibers das Concept von dem Stradioten entwerfen, welches er gar willig auf sich nahm. Ich wußte den Nachmittag nicht besser als mit Taubenschießen zu passieren, welche Lust ich mir öfters zu Verkürzung des langweiligen Wetters belieben lassen. Ich wußte aber gleich anfangs nicht, warum die Tauben so überaus scheu waren, weil keine in den Kobel oder in das Taubenhaus sich retirieren wollte, welches sonst ihr beste Retirada war. In diesem Zweifel erblickte ich einen Marder, welcher recht gegen mir über in einem Loche saß und allem Ansehen nach daselbst auf eine gute Beute paßte. Aber ich schlich geschwind um eine gute Büchse, spannte solche und schlug an. Da ich aber am besten zielete, guckt Bruder Sempronio zu dem Loche heraus und sprach: »Bruder, schieß nicht!« Dieses Gesicht, ob es mir gleich ziemlich bekannt war, hielt ich in der erste vor ein blendendes und betrügliches Gespenst, senkte demnach vor Schrecken meine Flinte vom Backen, und indem ich solches tat, stieg Sempronio, Dietrich und Wilhelm aus dem Kobel, und lachten alle drei, daß es in dem Hof schallete.

»Wie seid ihr«, sprach ich zu ihnen, »ewiglich hereingekommen, und wann ist euer Ankunft geschehen?« Damit eröffneten sie mir den Betrug, daß sie gestern abends, und zwar in tiefer Nacht, an das Schloß gekommen. »Wir beredeten den Torwärter,« sprach Wilhelm, »weil du nicht zu Hause, sondern bei der Execution zu Ollingen warest, daß er uns unangemeldet im Finstern in das Taubenhaus einließe, und unsere Resolution war, dich heute in der Nacht heimlich zu überfallen und dir gegenwärtigen Gevatter-Brief zu überliefern, darob du dich ohne Zweifel sehr verwundern wirst. Und wenn du nur nicht zu schießen wärest willens gewesen, so wär der Possen angegangen.« Da fing ich erst an, mich selbst auszulachen, denn ich hatte den Muff, welcher dem Dietrich zustund und ein Marderfell war, vor einen lebendigen[676] Marder gehalten, darüber sie sich selbst verraten haben.

Ich führte sie mit höchster Verwunderung meiner Frauen ins Zimmer, eröffnete den Brief und fand, daß es, wie sie vorgegeben hatten, eine Gevatterschaft, und zwar bei Herren Gottfrid, bedeutete, der nunmehr seinen ersten Sohn wollte taufen lassen. Machte mich derohalben zu diesem christlichen Werk fertig, darüber ich sehr erfreuet war und mich nicht viel im Kopf kratzte, wie mancher tut, sondern, als ich diese gute Freunde nach Vermögen getractiert, ritt ich mit ihnen auf Gottfridens Schloß, daselbst meiner Gebühr abzuwarten. Auf dem Hinweg erzählte ich ihnen die ausführliche Geschicht wegen des vorübergegangenen Zustands auf meinem Hause, und wie artig mir der alte Soldat geraten hätte. »Dergleichen Gesellen«, sprach Wilhelm, »wissen am besten, wie man kommen soll. Ich hab auch einen gekannt, der steckte in alle Löcher, da er einsteigen oder durchbrechen wollte, auch zu den Fenstern, allezeit einen ausgestopften Mann hinein, auf daß er dadurch probieren möchte, ob jemand an dem Ort aufpaßte oder nicht.« Diese Invention verwunderten wir sehr, daß die Menschen so arglistig zum Bösen und so faul und einfältig zu dem Guten wären. Das abc-Büchlein geht hart ein, aber die Karten zu kennen oder den Unterscheid zwischen dem Schellnkönig und grünen Daus kann fast ein jeder Knab auf der Gassen besser als alte Leute. Da heißt es denn: Vater, seid kein Narr, spielt Rot aus!

Über dieses erzählte ich ihnen auch von meinem Historico auf dem Turm gar viel Abenteuren und Historien, die er mir bis dahero zu einer Ergötzung geschrieben hatte, und sie mußten sich wundern, daß ich meine Trauerzeit durchzubringen so lustig und löblich disponiert hätte, absonderlich, da ich ihnen von dem Nobiscum und der Beschließerin, wie auch von dem Ab initio und seiner Orgelkunst erzählte. Wünschten mir also alle eine künftige bessere Vergnügung und verwunderten, daß ich den Brand an meines seligen Vaters Schlößlein so leicht vergessen und in den Wind schlagen können, welches dem tausendsten Menschen in einem so[677] hauptsächlichen Verlust nicht gegeben wäre, mit so beständigem Gemüt zu verbeißen. Aber was kann man bei solchen Zuständen anders tun als geduldig sein? Warum soll man seine Seel, die ewig leben wird, wegen einer zeitlichen und vergänglichen Sache zu Tod kränken? Es währet doch alles nur ein Weil, und viel Seufzen bringt dasjenige nicht wieder, was einmal verloren ist. So hatte ich über dieses Mittel genug, mich und die Meinigen nach aller Notdurft hindurchzubringen, warum solle ich mir denn wegen dieses, obzwar schmerzlichen Verlustes, den Hals abgerissen oder mich aufgehangen haben? Ein solcher verzagter Weichling bin ich niemals gewesen, will es auch noch nicht werden, weil ich wohl weiß, daß es dem Menschen zu seinem Besten gereiche, wenn er wacker getribuliert und gestiegelfritzet wird. Denn da lernet man sein Elend desto besser betrachten, die Eitelkeit mehr verachten, das Zeitliche hassen und suchet einen andern Weg, nämlich zu dem Himmel, sein Heil zu suchen, und dort ist solches auch beständig zu finden.

»Du hast recht,« sprach Wilhelm, »es ist mir auch nicht viel anders, man muß sich in der verfluchten Welt herumschleppen, und wenns zum Stich kommt, so haben wir doch nichts getan, und bleibt alles unvollkommen. Ich setze mich zu Hause in mein kleines Stüblein, esse einen guten Schinken und trinke ein paar Gläslein Aquavit darauf, damit genieße ich meine Ergötzlichkeit. Man hat doch auf der Welt keinen andern Genuß als ein bißlein Kleider, damit man den Madensack zudecket, und ein wohlschmeckendes Magenfutter, das ander ist nit der Mühe wert, daß man sich darum viel bekümmere. Zuweilen rufe ich den Einsiedler aus seiner Steinhöhle hervor, mit ihm mein Gebet und Andacht zu verrichten. Will ich wissen, wie es in der Welt oder sonsten zugeht, so lasse ich aus der Stadt den schwätzhaftigen Hans in allen Gassen holen. Der erzählet mir so viel in einer Stund, daß ich genug habe, vierzehen Tage daran auszuklauben und nachzuspintisiern. Vergangenen Winter bin ich meistenteils mit meinen Schloßleuten auf dem gefrornen Fischteiche auf Beinschlitten gefahren, und dort hat einer den andern über den Schlitten abgestoßen, wie ihr euch wohl einbilden könnt.«[678]

In diesem untereinander gepflogenen Gespräche stieß uns ein Mann auf der Straße auf, welcher mit einem Pferde einen großen Kasten auf seinem Karren führte. »Ihr Herren,« sprach er, »verzeihet meiner Unhöflichkeit, daß ich frage, wo der rechte Weg nach dem Kloster Sanct Martini hingehe. Fahr ich zur Rechten oder fahre ich zur Linken?« – »Ihr seid schon auf dem rechten Weg,« sprach ich zu dem Fragenden, »aber was führt Ihr auf Eurem Karren?« – »Beliebt den Herren, meine War zu sehen,« sprach er, »so will ichs alsobald zeigen.« Damit eröffnete er seinen Kasten und wies uns Wundergezeug untereinander, daß wirs nicht leichtlich unterscheiden könnten, wäre es genähet oder gewirket. »Ihr seid«, sprach Sempronio zu mir und Dietrich, »Eremiten, Einsiedler und so heilige Leute gewesen und kennt diese Röcke nicht? Es sind von Roßhaaren gestrickte Bußkleider, die man auf lateinisch Cilicia nennet.« Darüber mußten wir uns billig schämen, daß wir wollten ein so scharfes Leben geführet haben und kannte doch keiner unter uns ein Cilicium; fragten demnach den Krämer, wohin er damit zu fahren gesonnen wäre. »Wie ich zuvor gesagt habe,« antwortete er, »so will ich damit in das Kloster zu S. Martin, ob etwan die Mönche in selbem Convent etwas von meiner War vonnöten hätten. Es ist wohl gemacht und fleißig gestricket, aber ich kann nirgends nichts loswerden, unerachtet ich fast in allen umliegenden Klöstern gewesen. Da droben auf der Höhe wohnt ein Pfaff ganz alleine, der fragte mich, wie teuer ich eins verhandelte. Ich sprach: ›Vor anderthalbe Taler.‹ Da machte er ein großes Kreuz und sprach, wo ich ihm vor zwei einen halben Gülden geben wollte, sollte ich sie alle beide mit mir nehmen, weil sie noch ganz neu und kaum zweimal von ihm wären gebraucht worden.«

»Ja,« sagten wir, »mein lieber Krämer und Kleiderstricker, diese War hat keinen großen Abgang. In Ägypten hättet Ihr ehedessen unter den Einsiedlern einen guten Handel gehabt, aber die heutigen Mönche tragen lieber ein schönes und warmes Camisol unter der Kutten als eine härine Juppe.« – »Es ist mir mein Weib gestorben,« sagte er, »wollen sie mirs im Kloster nicht abkaufen, so will ich ihnens verehren,[679] daß sie aufs wenigst Seelmessen vor sie lesen.« Damit geißelte er mit seinem ›wie de hot‹ davon. »Dieser Mensch«, sprach Wilhelm, »hat sein Handwerk etwas zu spat gelernet. Ehedessen, als die alte Andacht noch im Christentum florierte, galten solche Hemden mehr als Sinewaff oder Schleier. Aber anitzo werden sie nur von denjenigen getragen, die eine juckende Haut haben, und solchergestalt dienet ihnen das Kleid vielmehr zur Wollust, weil sie sich darinnen wie ein Schwein an einem Stock zu reiben wissen, und nicht zur Kasteiung des Fleisches noch zu Hemmung der unordentlichen Affecten, auf welches diese Kleider ursprünglich und hauptsächlich angesehen sind.

Solche härine Kleider haben die Altväter in der Wüsten mit großer Patienz und Devotion getragen, da wir hingegen kaum leiden noch dulden können, wenn uns ein Floh in die Seite sticht. Ich lese oft mit Lust und Wunder in den Legenden, wie strenge Bußkleider die Heilige getragen, zu geschweigen, wie ein hartes Leben der und jener zur Verachtung der zeitlichen und irdischen Wollüste geführet. Solche Andacht ist mit der alten Welt verschwunden, und die neue fänget allgemach an zu zweifeln, ob so fromme Leute auf der Welt gewesen wären oder nicht, und unsere Köpfe sind nur allein klug, weil wir uns unterstehen dörfen, ihr Leben vor große Torheiten auszuschreien. Wer kann sagen: dieses ist darum geschehen, jenes darum? Diese Urteil des Höchsten sind weit von uns abgesondert und verborgen. Wie manchem wär es besser, er lebte als ein frommer Einsiedel in der äußersten Insul oder Wildnis, als daß er in öffentlichen Versammlungen sich nicht viel anders als ein wildes Vieh verhält. O wie gut wäre es manchem, daß er zur Vermeidung gemeiner Ärgernis in einem Wald säße und seinem Heil nachsinnete! Und dannenhero habe ichs niemalen mit denjenigen gehalten, die das Klosterleben so gar vernichtet und die Einsamkeit so sehr verachtet haben.

Alle Sachen, wo sie zur Ungebühr gebrauchet werden, sind strafbar, und wegen des Mißbrauchs ist nicht stracks die Hauptsache aufzuheben. Man findet alle Stände mit Lastern beschmitzt. Man hat Exempel, daß Eheleute einander[680] mordet, Soldaten aneinander totgeschlagen, Geistliche mit- und widereinander geketzert haben. Nichtsdestoweniger ist der Stand nicht an sich selbst, sondern nur die Glieder desselben durch ihre eigene Laster verächtlich gemacht worden. Also argumentierte ich auch vom Kloster- und Einsiedlerleben. Die Apostel sind allezeit klare Lichter der Welt gewesen, ob sich schon der verzweifelte Judas statt des Himmels einen Weidenbaum mit dreißig Silberlingen eingekaufet hat. Wenn ein Bürger in einer Stadt zum Schelmen wird, so geht doch dieses Bubenstück seinen Nachbarn nicht an, weil er mit falschen Practiquen nichts zu tun, noch mit diesem Verbrecher eine Gemeinschaft im Laster gehabt, ob er gleich mit ihm, als ein Bürger, vergesellschaftet gewesen. Denn sobald dieser zum Schelmen geworden, hat er durch seinen begangenen Frevel das Bürgerrecht aufgehoben und sich also von den andern Mitbürgern separiert. Man kann der Sonne deswegen keine Dunkelheit beimessen, weil sie zuweilen mit düsteren Wolken vergesellschaftet wird, und nur ein unkluger Kopf wird sagen: ›In dieser Stadt gehet es lasterhaft zu!‹, wenn er dorten alle Wochen fast ihrer sechsen den Staupbesen geben siehet. Denn indem dieses geschicht, hat er vielmehr Ursach, zu betrachten die gerechte Obrigkeit und ihr wachendes Aug, welches über den Lastern nimmermehr einschlummern kann.

Wo ist derjenige Land- und Bauersmann anzutreffen, der sagen kann: ›In diesem Getreid ist kein Unkraut‹? Welcher Winzer in dem Weingarten darf vorgeben, daß in seiner Weinlese keine faule Weintraube gewesen? Welcher Beck hat die Zeit seines Lebens lauter reines Korn gemahlen? In welchem Garten ist kein wurmiger Apfel gewachsen? Welchem Fischer sind keine Fische abgestanden? Wer ist derjenige unter uns, der niemalen auf dem Eis geschlüpfet hat? Welches Pferd hat nie gestolpert? Welche Orgel hat sich niemals verstimmet? Hat doch das Firmament selbst Finsternissen, die Erde Mißwachs, die Flüsse Ergießung, das Meer seine Ungestüm. Also haben auch die Menschen, sie mögen nun in Klöstern, in der Welt, auf Dörfern oder in Städten oder auch in den abgelegnesten Wüsteneien bei den[681] Antipedibus daraußen wohnen, ihre sonderlichen Fehler und leider mehr als zuviel. Unsere Augen sind an Vortrefflichkeit allen äußerlichen Leibsgliedern weit vorzuziehen; aber diesen Hauptfehler führen sie mit sich, daß sie das Laster ihres Nächstens gemeiniglich viel ehe und viel größer als das unsrige erblicken und urteilen.«

Eine solche Lobrede führte Herr Wilhelm zu Ehren der Geistlichkeit, die er sehr hoch hielt. Darum hatte es auch sein Einsiedler nicht schlimm, welcher fast alle Tage mit ihm in dem Schlößlein über Tische speisen mußte. Er wäre auch selbsten schon lange ein Mönch geworden, wenn ihn erstlich seine zwei junge Vettern, die immer auf sein Erb hofften, und dann seine zufällige Grillen nicht davon abgehalten hätten. Denn wenn es ihn unterweilen ankam, so wurde er unversehens so fröhlich und lustig, daß er oft vor großer Freude nicht wußte, wie närrisch er sich gebärden sollte.

Quelle:
Johann Beer: Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommer-Täge. Frankfurt a. M. 1963, S. 675-682.
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