Rabenflug

[123] Mattheller Wintertag. Wie goldene Bronce

Liegt auf dem Schnee der Sonne schwacher Schein.

Das Leben schläft in träumender Agonie.

War Frühling einst? In dieser grauen Luft

Hat farbiges Falterschwingenspiel geweht

Und Blumendüften? Wo das kalte Weiß[123]

Starr liegt und eben, wogte Maiengrün,

Von buntem Blumensternenschmelz, durchflockt?

Wie ist es still geworden, todesahnungsstill ...

Der Park ist offen. Niemand trat durchs Thor.

So einsam ists, als wärs die Toteninsel.

Die Marmorgötter auf den hoben Sockeln,

Von Schnee behaubt, stehn da wie Gräbermale;

Die Tannallee, schnurgrad hinausgezogen

Vom weißen Schloß bis an die Mauertürme,

Ist eine schwarze, steife Leichengarde,

In Reih und Glied zum Trauern kommandiert.

Von jedem Schritte knistert, wie in Schmerz, der Schnee,

Mein Hauch dampft aus in grauen Nebelwölckchen;

Bin ich allein das Leben in dem Tod?

Mein warmes Herz, du nimmer müder Quell

Voll roten, heißen Lebensweines, ströme

Die Purpurwogen voller Liebe aus,

Gieß aus durch meinen Leib die Flut der Liebe,

Denn leben will ich, heiß in Liebe leben!

Wo ist die Bank, da die Syringentrauben

Geschämig blau aus dunklem Laube winkten?

Im hellen Lindgezweig, das drüber dachte,

Barg sich ein Finkenpaar im kleinen Nest,

Ein Marmorfaun auf rotem Porphyrsitze

Ließ sich die Liebe einer kleinen Nymphe,

Die eng sich schmiegte seinem feisten Leib,

Mit Grinsen wohlthun ... Suchend geh ich schneller[124]

Und finde meine Laube. – Armer Faun!

Die kalte Flockenmütze sitzt ihm schief,

Sein armes Nymphchen ist ihm schier verdeckt,

Ihr Schmiegen sieht mir gar nicht mehr wie Liebe,

Ach sieht nur noch wie bittres Frieren aus.

Das Finkenpaar? Ein alter Rabe sitzt

Im krummen Knorrgeäst der kahlen Linde

Und preßt die Flügel an den kalten Balg.

Du schwarzer Leichenbitter, kannst du sagen,

Wo jetzt die Liebe weilt? Er hebt die Flügel,

Und krächzend, schwanken Fluges, schwebt er fort

Und fliegt zur Stadt. – Schnell bin ich nachgegangen

Der Richtung seines Flugs. Und sollt mans glauben?

Ich fand auf dieses alten Raben Weg

Ein kleines Haus, darin die Liebe wohnt.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 123-125.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irrgarten der Liebe
Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)