Sonne

[125] Nach langen Nebelwochen voll kaltem Schattengrau

Heute der erste Tag,

Da sich der Himmel hellt,

Die Sonne wieder scheint,

Das heilige Licht des Lebens.
[125]

Ich erkenne dich, gütige Gottheit,

Und meine Augen beten dich an

Mit hellen Blicken,

Im Lichte beten sie das warme Leben an

Und saugen seine gütigen, goldenen Strahlen

Mit Kindes Wollust ein,

Das an der Mutterbrust

Nahrung aus heiligem Leibe saugt.


Also trink ich mit strahlenden Augen den Gnadenstrom

Unerschöpflicher Werdenskräfte mit Lust,

Der von der Sonne, dem heiligen,

Liebeflammenden Leibe kommt.


Lebensglut-schürender Feuerwein sind die

Goldenen Strahlen der Sonne, und der begnadete,

Betende Trinker taumelt im Herzen begeisterten Tanz,

Ob auch sein Fuß bedächtig hin

Ueber der Erde rauhen Rücken geht,

Denn seine Seele ist auf der Sonne,

Denn seine Seele brennt in den Gluten

Lebenschenkender Güte.


In der seligsten Liebesbrunst brennt sie,

Tanzgewirbelt ein stäubender Funken[126]

In dem riesigen Sonnenfeuer,

Sie, auch sie ein jauchzendes Flackerteilchen

Der großen Liebeslohe, die in die kreisende Dunkelheit

Ihre lebenanfachenden Fackeln reckt.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 125-127.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)