Wartelohn

[144] Morgenjunge Herrlichkeit,

Hell die Welt und frisch der Wind,

Wartend klopft mein Herz geschwind –:

Eine Minute schon über der Zeit!

Ach, wie oft schon sagt ichs, Kind:

Pünktlichkeit!

Und ich spähe augenweit,

Und ich schaue fast mich blind,

Ist das Mädel nicht gescheidt?[144]

Zehn Minuten schon über der Zeit!

Soll ich eine Ewigkeit

Warten und sehnen!? – Langsam rinnt

Der Minuten Folge, breit

Wie ein Theerstromm. – Zeit, oh Zeit!

Deine Minuten wie Stunden sind! ...

Sieh, da flattert ihr blaues Kleid,

Flattert im Wind!

Alles Warten ist verwunden,

Hat sich Mund auf Mund gefunden,

Blick in Blick sich eingesenkt.

Dehnten jetzt sich die Sekunden

Wärs kein Umstand, der uns kränkt,

Da der Wind mit leisem Neigen

Ein Panier aus Frühlingszweigen

Ueber unsren Küssen schwenkt.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 144-145.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)