Nachts an die Nachtigall

[332] (Herrn Hugo von Hofmannsthal zugeeignet.)


Oh du Nachtigall mit süßem Sang,

Liebesruferin in dunkler Nacht,

Kleine Brust, von Seligkeiten bang,

Seele, die in Sehnsucht schluchzend lacht,


Flöterin aus dunkeltiefem Grund,

Warum macht dein Lied das Herz mir schwer?

Ach, ich fühls, noch immer ist es wund,

Dieses Herz, und duldet viel zu sehr.


Schlägt noch nicht im eigenen Genuß,

Liegt noch immer in der Sklaverei,

Daß es allem Leide frohnden muß,

Bebend lauschen jedem Weheschrei.
[332]

Wärs wie du und fühlte nur die Lust

Und die Schönheit dieses Lebensdrangs,

Seiner Sehnsucht stürmisch nur bewußt

Und der Fülle eigenen Gesangs,


Wärs wie du oh süße Nachtigall,

Glücklich wär dies Herz, und all sein Schlag

Wäre wie Gebet und Glockenschall

Zu der Sonne und dem lichten Tag.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 332-333.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)