Und immer mehr erkenn ich dies

[330] Und immer mehr erkenn ich dies: das Leben

Ist Eins; wir alle sind nur Glieder Gottes,

Des Ungeheuren, so, wie Magen, Lung und Nieren

Einander fremd, doch Glieder sind des Leibes.

Wir kennen uns einander nicht und sind

Doch Eines Wesens, sind uns fremd und gleich,

Und aller Haß ist Torheit, alle Angst

Ist Wahn, ja selbst der Schmerz ist nicht der Träne wert.

Und Tod? Was ist der Tod? Es fällt ein Haar

Vom Haupte Gottes, – weniger noch: ein Sämlein wirbelt

Ins Nichts. Und gehts verloren? Nein. Wie könnt es denn?

Wer weiß, wohin wir fallen! Sicherlich

Aufs neu ins Göttliche. – Ach, laßt die Angst!

Was gehn uns Gottes Sorgen an? Doch dies

Ist wieder Torheit. Gott ist so wie wir

Und kümmert sich gewiß nicht, sondern lebt,

Lebt, lebt und stirbt in Größeres noch,

Wenn seiner Kräfte Maß vergossen ist.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 330-331.
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