5.

[337] Täglich fahr ich mit Pietro,

Meinem wohlbeleibten Kutscher

(Und mit seinem Pferdchen Palle,

Welches auch nicht mager ist),


Täglich nachmittags um dreie

Fahr ich auf der alten Straße,

Die sehr steil ist und sehr holprig,

Erst nach San Domenico


Und sodann, vorbei der Villa,

Wo Herr Dante einst verliebt war,

Zwischen hohen Gartenmauern

Nach Florenz. Dort trink ich Tee.


»Wie? Und der Palazzo Pitti?

Accademia? Uffizien?

Bibliotheca Laurenziana?

Hast du nicht nach Schönheit Durst?«
[337]

Oh ja. Aber für Museen

Bin ich selten nur in Stimmung;

Denn es sind Konservenbüchsen;

Ihre Schönheit schmeckt nach Blech.


»Wie? Die himmlische Tribuna?

Alessandro Botticelli?

Cimabue? Donatello?«

Alle schmecken dort nach Blech.


Lieber wandre ich durch dunkle

Kirchen mit dem Operngucker

Und verrenke Hals und Kopf mir

Nach der dort verstecken Kunst.


Da nur wirkt sie noch ins Leben,

Thront sie noch auf ihrem Throne,

Frei, gebietend, nicht gefangen:

Atmet aus und atmet ein.


Denn ein Kunstwerk braucht den Atem,

Braucht die Luft des tätigen Lebens;

Seine Schönheit wird zum Schemen,

Sperrt man sie vom Leben ab.


Stünde David noch im Freien,

Dort, wohin ihn schuf sein Schöpfer,

Wohl, er wäre nicht so glänzend

Weiß wie jetzt und »fast wie neu«,


Aber, grau vielleicht und rissig,

Mitgenommen von Frost und Feuchte,[338]

Leidend, wie das Leben immer

Leiden muß, um ganz zu sein:


Stünd er heldenhaft lebendig,

Sterbend stünd er noch lebendiger,

Herrlicher, strahlender da, als jetzt im

Abgemessenen Oberlicht.


»Und verdürbe.« Freilich. Alles

Leben muß einmal verderben.

Aber leben soll es, leben:

Wirklich leben, bis es stirbt.


Denkt nicht immer an die Enkel!

Denkt an euch, wie jene taten,

Die ihr Leben sich verklärten,

Bildner ihrer Gegenwart.


Dann erst hättet ihr ein Recht, sie

In die heiligen Leichenkammern

Eurer Pietät zu stecken,

Brauchtet ihr für Eignes Platz.


Doch genug. Ich geh zu Gilli,

Trinke Tee und esse Kuchen.

Leider bin ich manchmal schwach und

Lese Zeitungen dazu.


Heiliger Marsyas! Noch immer,

Simson Deutschland, sind Philister,

Ach, und was für eine Sorte

(Frech und bieder), über dir.
[339]

Deine Delila heißt Wohlstand.

Üppigst hast du zugenommen.

Wohl bekommt dein Fett dem Bauche,

Doch dem Hirn bekommt es schlecht.


Und der Seele, ach, der edlen

Deutschen Seele fehlts am Raume,

Scheint es, in dem kolossalen

Korpus, der ganz Masse ist.


Bocke, bocke nicht, Trochäus!

Jetzo mußt du Zahlen buckeln.

Schwer fällt wohl dabei das Tanzen,

Doch dein Kriechen kündet Ruhm:


Seit dem Jahre achtzehnhundert-

Achtzig stieg von einunddreißig

Teilen unser Kohlenkonsum

Bis auf hundert heut. Respekt!


Der Verbrauch von Weizen hat sich

In derselben Zeit verdoppelt.

Apfelsinen ißt man ditto

Doppelt mehr als dazumal.


Und nun gar der Heckepfennig,

Symbolum des höheren Lebens,

Hat um zweiundachtzig Hundert-

Teile löblich sich vermehrt.


Simson! Simson! Wahr die Haare!

Delilachen liebt die Glatzen![340]

Selbst die Haare auf den Zähnen

Küßt sie, fürcht ich, dir noch weg.


Schon hast du das Byzantinern

Allzurasch gelernt, schon zieht dein

Bauch dich tiefer auf die Erde,

Als es Ehrerbietung heischt.


Treibe andere Gymnastik,

Als nach vorn die Rückenbeuge!

Steige, Simson, wie du stiegst, als

Michel Deutsch noch mager war!


Cameriere! Cameriere!

»Subito!« – Pagare! – »Grazie!«

So. Jetzt geh ich zum Lungarno,

Schöne Damen anzusehn.


Warum nicht? Ich kanns vergnüglich,

Denn ich habe eine schönre.

Treue ist für den kein Kunststück,

Der bei jedem Tausch verliert.


Ah, die Gräfin Montignoso!

Na, so, so. Da: die Geliebte

Des viel schönren Gabriele.

(»Rübchen« heißt er eigentlich.)


Nun, nicht übel: Rasse, Feuer,

Gertenbiegsam, große Augen,

Wie sie für die weite Bühnen-

Perspektive nützlich sind.
[341]

Dort: Amerika. Das ist nun

Nicht mein Fall. Protzt Hygiene.

Resultat der Speisekarte.

Wenig Anmut, viel Effekt.


England. Aoh! Noch immer schwärmt die

Miß für »ihren« Botticelli.

Engelhaft und englisch gibt ein

Wunderliches Mischprodukt.


Endlich kommt, der ich schon lange

Aufgelauert habe, kommt die

Große Modekurtisane,

Die Bellezza von Florenz.


La Signora Millelire

Heißt man sie. Des zum Beweise

Trägt sie eine Perlenkette,

Die gewiß nicht billig ist.


Sonst: Ich danke. Bloß Bellezza.

Ansichtskarten-Schönheitstypus;

Gut genug für jene Beutel,

Die voll mille lire sind.


Aber nun: Oh teure Heimat!

Kommt da nicht das süße Gretchen,

Das, weils seinen Hans gefunden,

Schleunigst nach Florenz gemußt?


Ja, sie kommt, und ja, sie lächelt,

Ja, sie ist ganz hin vor Selig-[342]

Keit und großem Glücke, weil sie

Wirklich in Italien ist.


Spotte nicht, verruchter Knabe!

Laß ihr auch das jugendstilig

Künstlerich empfundne, aber

Praktische Reformkostüm.


Ist sie trotzdem nicht recht niedlich?

Frage dich: wie viele solche

Mündchen, Äugelchen und Näschen

Haben ehmals dich entflammt?


Außerdem: »Frühlings Erwachen«

Hat auch diese tief begriffen,

Und sie ist durchaus kein Gretchen

Wie das alte Gretchen mehr.


Neue Jugend! – »Jugend«! Präge

Tief es dir in dein Gemüte:

Von der alten »Gartenlaube«

Sind wir absolut befreit.


Auf, und greife in die Harfe!

Unser Gretchen ist verwandelt,

Unser Gretchen ist ästhetisch,

Unser Gretchen ist modern.


Sieh, sie geht in einen Laden,

Wo man schöne Marmorsachen

Billig kauft. Nun: was erstand sie?

Ha! Ein nacktes Frauenbild!
[343]

Schlag die Harfe! Schlag die Harfe!

Denn Germania ist gerettet.

Zwar: sie kaufte einen Kitsch, doch,

Heil, es war ein nackter Kitsch!


Vetturino! »Sissignore«.

Nach Fiesole! – Die Gäulchen

Brauchen Gott sei Dank zwei Stunden,

Bis ich wieder oben bin.


Denn es ist ein schönes Fahren,

Langsam, langsam, bis zur Höhe.

Unten liegt, wie eine Muschel,

Rosafleischig überhaucht,


Traumhaft, wesenlos, ein sanftes,

Zages Blinken, liegt phantomisch

Diese Stadt der alten, edlen

Phrasenfeindlichen Kultur.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 337-344.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Ausgewählte Gedichte

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon