34. Der Reiter auf dem Graneckle.

[28] Schriftlich.


Ein Schäfer hat mal seine Schafe um's Graneckle bei Wißgoldingen herum geweidet, da sah er plötzlich einen Reiter auf geflecktem Rosse. Der Schäfer wunderte sich deß sehr, wie der so steilen Weg hinum reiten könne, und hielt das Ding kaum für möglich. Schäfer ging hin, verneigte sich vor dem Reiter. Es war gar ein vornehmer, hoher Herr. Schäfer fragte ihn, wo er noch Abends mit einbrechender Nacht hinreiten wolle. Der Ritter gab ihm keinen Bescheid, streckte ihm nur ein weißes Paketchen mit der linken Hand hin. Der Schäfer hatte keinen Mut, es zu nehmen, absonderlich weil der Herr nichts redete. Reiter hält's noch immer hin und nickte ihm zu, es zu nehmen. Endlich griff der Schäfer zu und faßte Mut; es sei aber das Päckchen so grausig schwer gewesen, daß er mit einer Hand es nicht mehr zu halten vermochte. Schäfer ging damit bergabwärts, seinen Schafen zu. Nach kleiner Weile guckt er wieder herum, sieht kein Dinglein mehr vom Reiter. Am Fuße des Berges verkam dem Schäfer ein ursteinalter Mann in grauem, großem Mantel, mit ellenlangem grauen Kinnbart; Schäfer schaute ihn verduzt an und wollte ausweichen. Der alte »Graumantel« ging auf ihn zu und sagte mit gräulicher Stimme: »Gieb mir mein Päckchen[28] wieder.« Der Schäfer wollte nicht recht, aber die Gestalt des Alten verwandelte sich im Nu in tausend Schreckbilder; dem Schäfer gruselte es, gab's Päckchen her, und der »graue Mann« mit seinem grauen Mantel und Bart verschwand. Es war die siebente Stunde Abends.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 28-29.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagen, Märchen, Volksaberglauben
Sagen, Märchen, Volksaberglauben