99. Verwünschtes Fräulein.

[72] Mündlich von Ulm.


In einem Walde bei Wiesensteig ging ein verwünschtes Fräulein um. Man sah es auf Stöcken von Eichen und[72] Buchen sitzen. Es ist jezt lange her, ging des Amtmanns Sohn von Wiesensteig alle Mittag im gleichen Walde spazieren; sah auch das schneeweiße Fräulein auf einem Eichenstumpf sitzen, wurde vertraut mit ihr und ging an ihrer Seite oft den Wald aus und ein. Wiederholt bat das artige Fräulein seinen Begleiter, ihr zu sagen, wer doch auch seine Eltern wären. Des Amtmanns Sohn gestand die Wahrheit nie ein. Wieder einmal that das Fräulein eine Bitte vor dem jungen Menschen: doch morgen zur bestimmten Stunde, wie bisher, zu erscheinen; sie wolle ihm alsdann die Hand reichen, er solle nur nicht erschrecken, in was für einer Gestalt sie immer das thue; erlaubte ihm auch, Handschuhe gebrauchen zu dürfen; noch nicht genug: er dürfe selbst zu Roß kommen und statt Hand im Handschuh seine Reitpeitsche darreichen. Amtmanns Sohn ging den Handel ein, freute ihn, das Fräulein erlösen zu können. Ganz so, wie verabredet, reitet er zur gewöhnlichen Stunde in das Wäldlein hinein an den gewissen Platz. Fräulein ist wieder da; Reiter streckt seine Peitsche hin: aber, o Abscheu, plötzlich ringelt sich ein häßlich Gewürm ganz feurig, ein Drache an der Peitsche herum. Voll Angst läßt Reiter seine Peitsche davon, reitet spornstreichs durchaus der Heimat zu. Hinter ihm aber kam es her wie Donnerwetter, Windsbraut und Bäumekrachen, und rings war er umgeben davon. Nach Hause gekommen, legte er sich, stand nie wieder auf, that ein Geständniß und starb58.

58

Grimm, Mythol. S. 914.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 72-73.
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