406. Die entrückte Braut.

[257] Mündlich von Tübingen.


Am Rhein drunten war ein braves, christliches Mädchen, die hatte Hochzeit. Sie war eine große Liebhaberin von Rosen und ging vor der Kirche noch geschwind in den Garten, um sich ein Sträußchen zu holen. Als sie hinein kam und sich nach den schönsten Rosen umsah, begegnete ihr plötzlich ein Mann. Wer er gewesen, das wußte sie nicht. Er sagte zu ihr: sie hätte zwei schöne Blumen, doch hätte er noch viel schönere in seinem Garten; ob sie nicht mit ihm wolle? Kaum traute sie ihren Augen und sagte zu ihm: es sei ihr nicht möglich, sie müsse in die Kirche, es sei höchste Zeit. Es ist nicht weit, sagte der Fremde. Das Mädchen ließ sich überreden und ging mit, weil es nicht gar weit[257] wäre. Sie durfte nur ein bißchen laufen, und sie waren in seinem Garten; der Fremde zeigte ihr schöne, schöne Blumen, wie sie noch nie schönere gesehen, gab ihr besonders eine wundervolle Rose, und die Hochzeiterin hatte große Freude. Sie kehrte zurück und wollte heim, weil sie sonst zu spät in die Kirche käme. Wie sie die Stiege hinauf kam, wußte sie nicht, wie ihr geschah. Kinder spielten oben, und sie kannte sie nicht; Leute waren drinnen, und sie kannte sie nicht. Man lief ihr davon, und Alles fürchtete sich vor der unbekannten Weibsperson, die im alterthümlichen Hochzeitsschmucke dastand und bitterlich weinte. Niemand, Niemand, auch nicht eine sterbige Seele wollte sie mehr kennen, und sie war doch eben von ihrem Bräutigam weg in den Garten gegangen, und nach so kurzer Zeit keine Hochzeitsgäste und kein Bräutigam mehr da! Sie fragte nach ihm, und Niemand wußte Bescheid. Alles stand verwundert um die weinende Braut. Endlich erzählte sie Alles, wie es sich zugetragen mit dem fremden Gärtner und der Hochzeit. Ein Mann sagte, er hätte das Haus gekauft und wisse durchaus nichts von ihrem Bräutigam und ihren Eltern. Darauf ging man zum Pfarrer des Orts, der schlug die Kirchenbücher nach: zum größten Erstaunen Aller war diese merkwürdige Hochzeit mit den Namen aufgezeichnet und dabei genau die Zeit. Es war gerade 200 Jahre, seit die Tochter aus dem väterlichen Hause am Hochzeitsmorgen verschwunden war. Sie lebte noch sieben Jahre und starb zulezt aus Gram. Der fremde Gärtner aber sei Christus gewesen, der sie einem schweren Ehe-Unglück entrückte230.

230

Dieses ist eine am Rhein drunten weitverbreitete Sage und wahrscheinlich durch Lektüre bei uns einheimisch geworden.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 257-258.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagen, Märchen, Volksaberglauben
Sagen, Märchen, Volksaberglauben