58. Rotweiler Fastnachtsitten.

[35] Deutsches Volksblatt 1861 v. 17. Febr.

Es erscheint der Carneval-Montag; schon Morgens 7 Uhr bemerkt man ein reges ungewöhnliches Leben, von[36] allen Gassen eilen Männer, alte und junge, in ein zum Versammlungsort bezeichnetes Wirtshaus am äußersten Ende[37] der Stadt; hier vermummen sie sich, und mit dem Schlag 8 Uhr stürzen sie sich wie das wilde Heer auf die Straßen[38] unter schrecklichem Lärm und Gerassel. Einförmigkeit ist aber der Feind aller Lust wie aller Schönheit, drum sind sie in[39] verschiedener Weise maskirt: sie erscheinen als »Schandle«, als »Narren«, als »Bletzler«; auch »Bröllers Rößle« fehlt[40] nicht. Ueberall wird an der Fastnacht mehr oder weniger genarrt; aber so getreu wie in Rotweil finden wir nirgends die uralte Carnevalssitte gewahrt, daher auch sonst nirgends solch' originelle Narren erscheinen. Der »Schandle« steht auf der niedersten Stufe des Narrenstaats, er ist mit grobem schmutzigem Zwilch angethan, mit häßlicher, oft schimpflicher Larve; an dieser ist ein kurzes Mäntelchen befestigt, das Hals und Brust bedeckt; ein Besen in seiner Hand ist das Zeichen seines niedern Berufs. Der »Narr« ist eine weit stattlichere Figur, er dürfte der ächte Bürger des Narrenstaates genannt werden. Seine Kleidung besteht aus weißerem und feinerem Zwilch und ist vom Kopf bis zu den Füßen mit drolligen Figuren in grellen Farben bemalt. Er trägt eine nicht selten schön geschnittene Holzmaske, über den Hinterkopf hangen drei ellenlange gewaltige Fuchsschwänze. In der Hand hat er eine lederne, mit Sand gefüllte Wurst, mit der er den Begegnenden zum Zeichen der Freundschaft (?) einen Streich auf den Rücken versezt. Das Hauptkennzeichen[41] des »Narren« ist aber das gewaltige Rollengeschell, durch das er sich von allen andern Masken wesentlich unterscheidet; es hangen ihm nämlich über die Schultern breite lederne Riemen mit runden, faustgroßen Schellen, die sich auf Brust und Rücken kreuzen. Nicht selten trägt ein »Narr« acht solche Riemen mit einem Gewicht von 40-50 Pfund, denn je lauter das Geschell, desto stattlicher der »Narr«. Gehen darf der Narr nie im Schritt, sondern immer im Trab, um die Rollen in den gehörigen Schwung zu versetzen. Trotz der großen Anstrengung durch die Last und den Trab in den bergigen Straßen, fühlt sich der »Narr« doch oft 4-6 Stunden lang zu den heitersten Schwänken und Sprüngen aufgelegt – das macht die Narrheit! Stumm ist der »Narr« nicht, vielmehr kündigt er sich, sowie er einen Bekannten von Weitem erblickt, durch ein schmetterndes Huhuhu an; hat er seinen Bekannten erreicht, so hält er ihn fest und fängt an, ihm »aufzusagen«; dies geschieht unter Zulauf einer Menge gaffenden Volkes, und wehe dem, der während des Jahres eine Ungeschicklichkeit begangen oder irgend eine schwache Stunde gehabt hat! jezt wird ihm nach dem Grundsatz: Kinder und Narren sagen die Wahrheit, sein ganzes Sündenregister auf offener Straße vor die Nase gehalten. Aufsagen zu können ist der Hauptzweck und die Lust des »Narren«; darum führen viele Rotweiler das ganze Jahr über ein geheimes Narrenbuch, in das sie Alles eintragen, was während des Jahres Spaßhaftes oder Unrechtes passirt; auch zeigt der »Narr« hiebei einen unglaublichen Witz und Humor, so daß man am »Aufsagen« den Rotweiler vom Fremden im Augenblick unterscheiden kann. Der »Narr« ist übrigens auch eitel; gehört er einer besseren Familie an, so trägt er unfehlbar neue Glacehandschuhe; fehlen ihm diese,[42] so ist es gerathen, ihm aus dem Wege zu gehen, da irgend ein Proletarier oder Hausknecht in seinem Gewand steckt. – Der »Bletzler« bildet sozusagen den Adel im Narrenstaat; sein Gewand ist mit verschiedenen buntfarbigen Stoffen zusammengesezt und mit Franzen und Quasten geziert; bei ihm kommt das Aufsagen schon seltener vor, er begnügt sich damit, sich sehen und bewundern zu lassen. – Diese vielnamigen und verschiedenartigen Narren treiben sich nun in tollem Uebermuth auf den Straßen herum, oft kommen 50 bis 60 auf einem Platze zusammen; alles Volk ist auf den Beinen und läuft ihnen nach, schon in den frühen Morgenstunden strömt das Landvolk zu allen Thoren herein, um die Narren zu sehen, und hält aus bis in den späten Abend.

Quelle:
Birlinger, Anton: Sitten und Gebräuche. Freiburg im Breisgau 1862, S. 35-43.
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