Das Mädchen an ihren Spiegel

[136] O Spiegel, wie lebendig scheint

Mein liebes Bild aus dir!

Mein Rath, mein Zeitvertreib, mein Freund,

Mein Alles bist du mir.


Du unterhältst mich stundenlang

Mit freundlichem Gesicht;

In jedem Umgang fühlt man Zwang,

Nur in dem deinen nicht.


Und ist mir oft so ärgerlich,

Daß ich's nicht sagen kann,

So fängt beim ersten Blick auf dich

Mein Mund zu lächeln an.


Die schönste Freundesharmonie

Herrscht zwischen mir und dir,

Du seufzest mit aus Sympathie,

Und lachst und weinst mit mir.


Kein Freund auf Erden stimmt so sehr

Nach meinen Launen sich,

Kein Freund auf Erden liebt mich mehr,

Als du, mein zweitest Ich! –


Du bist mein Lehrer jederzeit,

Nie werd' ich deiner satt;[136]

All' meine Liebenswürdigkeit

Verdank' ich deinem Rath.


Aufrichtiger, als du bist, kann

Kein Freund auf Erden sein;

Du zeigst mir jedes Fleckchen an,

Und wär es noch so klein.


Dabei bist du galant und sag'st

Mir stets, wie schön ich sei,

Und Complimente, die du machst,

Sind keine Schmeichelei.


O Lieber, thu nur immerhin,

Wie du bisher gethan,

Und werde, wenn ich älter bin,

Mir ja kein Grobian.

Quelle:
Aloys Blumauer: Sämmtliche Gedichte. München 1830, S. 136-137.
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