Dritte Geschichte

[411] Pietro Boccamazza flieht mit Agnolella und stößt auf Räuber. Das Mädchen flüchtet sich in einen Wald und wird von dort zu einer Burg geführt. Pietro fällt gefangen in die Hände der Räuber, entgeht ihnen aber wieder und gelangt endlich, nachdem er noch andere Gefahren überstanden hat, in dieselbe Burg, wo Agnolella sich befindet. Dort vermählt er sich mit ihr, und beide kehren nach Rom zurück.


Es gab keinen in der ganzen Gesellschaft, der nicht Emilias Geschichte Beifall gespendet hätte. Die Königin aber wandte sich, als sie jene am Ziele sah, zu Elisa und gebot ihr, fortzufahren. Elisa gehorchte willig und begann also:

Holde Damen, ich entsinne mich einer traurigen Nacht, die ein junges Paar durch seinen Leichtsinn erleben mußte. Weil dieser Nacht aber viele frohe Tage nachfolgten, will ich euch die Geschichte, als unserer Aufgabe entsprechend, kurz erzählen.

Es ist noch nicht lange her, da lebte in Rom, das, wie es einst das Haupt der Welt war, nun ihr niedrigstes Ende ist, ein junger Mann namens Pietro Boccamazza, der zu einer der angeseheneren römischen Familien gehörte. Dieser verliebte sich in ein wunderschönes und reizendes junges Mädchen, das Agnolella hieß und die Tochter eines gewissen Gigliuozzo Saullo war, der, wenngleich von geringer Herkunft, sich doch bei den Römern großer Beliebtheit erfreute. Auch wußte der Verliebte sich auf so gefällige Weise um ihre Gunst zu bewerben, daß[411] die junge Schöne ihn nicht weniger zu lieben begann, als sie von ihm geliebt ward. Endlich fühlte sich Pietro von seiner glühenden Liebe so überwältigt, daß er unfähig zu sein glaubte, den Qualen des Verlangens nach dem Gegenstand seiner Leidenschaft länger zu widerstehen, und um die Hand des Mädchens anhielt.

Als aber seine Verwandten Nachricht von diesem Schritt erhalten hatten, bestürmten sie ihn alle und tadelten ihn laut wegen seines Entschlusses. Auf der andern Seite ließen sie auch dem Gigliuozzo Saullo sagen, er solle den Worten des Pietro auf keine Weise Gehör schenken. Wenn er es aber dennoch tue, würden sie ihn niemals als Freund oder Verwandten anerkennen. Da Pietro sich auf solche Weise den Weg verschlossen sah, auf dem allein er ans Ziel seiner Wünsche kommen zu können geglaubt hatte, wünschte er sich vor Gram den Tod. Gern hätte er, wenn nur Gigliuozzo eingewilligt hätte, dessen Tochter auch gegen den Willen aller seiner Verwandten geheiratet. Aber selbst ohne das nahm er sich vor zu erreichen, was er begehrte, wenn nur das Mädchen wollte. Und als er durch einen Dritten erforscht hatte, das Mädchen willige ein, verabredete er mit ihr, aus Rom zu entfliehen.

Nachdem alles zu diesem Zwecke vorbereitet war, verließ Pietro eines Morgens, lange vor Tag, seine Wohnung und schlug mit seiner Geliebten, als beide zu Pferde gestiegen waren, den Weg nach Anagni ein, wo Pietro Freunde hatte, auf die er sich in jeder Hinsicht glaubte verlassen zu können. Unterwegs ließ ihnen die Furcht, daß man sie verfolgen möchte, keine Zeit, ihre Hochzeit zu vollziehen, und so konnten sie unter fortwährenden Gesprächen über ihre Liebe nichts tun als zuweilen einander küssen.

Weil nun aber Pietro mit dem Wege nicht allzu bekannt war, geschah es, daß sie, nachdem sie vielleicht acht Meilen von Rom aus zurückgelegt hatten, dort, wo sie sich rechts hätten halten sollen, einen Weg nach links hin einschlugen. Und kaum waren sie auf diesem weiter als zwei Meilen geritten, so befanden sie sich in der Nähe eines befestigten Hauses, von welchem aus man sie kaum gesehen hatte, als auch schon ein Dutzend Bewaffneter herauskam, um ihnen den Weg zu[412] versperren. Das Mädchen, das sie zuerst, jedoch nicht eher gewahrte, als bis sie ihnen schon ganz nahe waren, rief laut: »Pietro, retten wir uns, wir werden überfallen!« Und mit diesen Worten trieb sie ihr Pferd, so schnell sie nur konnte, einem benachbarten großen Walde zu und drückte dabei, während sie sich an den Sattelknopf klammerte, dem Rosse die Sporen so tief in den Leib, daß dieses sie, vom Schmerz beflügelt, im schnellsten Laufe durch den Wald dahintrug. Da indes Pietro seine Augen mehr auf die Züge der Geliebten als auf den Weg gerichtet hatte, erblickte er den bewaffneten Haufen, der auf sie zukam, nicht so rechtzeitig wie Agnolella. Daher wurde er, während er sich noch umsah, von welcher Seite die Räuber kämen, von ihnen überfallen, gefangen und seines Pferdes beraubt.

Als er ihnen sodann auf ihre Frage seinen Namen genannt hatte, hielten sie untereinander Rat über ihn, und der eine sagte zum andern: »Der gehört zu den Freunden unserer Feinde. Was können wir Besseres mit ihm anfangen, als daß wir seine Kleider und das Pferd behalten und ihn dann den Orsinis zum Verdruß an eine dieser Eichen hängen?« Alle stimmten diesem Vorschlag zu und befahlen daher dem Pietro, sich zu entkleiden. Während aber dieser in der Todesangst sich anschickte, ihren Befehlen zu gehorchen, geschah es, daß ein Hinterhalt von wohl einem Viertelhundert Bewaffneter plötzlich mit dem Rufe: »Ihr seid des Todes!« über jene ersteren herfiel. Diese ließen nun, durch den Überfall in Schrecken versetzt, den Pietro los und wandten sich gegen die Angreifer, vor deren offenbarer Überzahl sie jedoch alsbald die Flucht ergriffen, auf der jene sie verfolgten.

Als Pietro sich auf diese Weise frei sah, suchte er sich seine Sachen wieder zusammen, bestieg sein Pferd und jagte, so schnell er nur konnte, nach der Seite hin, wo er das Mädchen hatte verschwinden sehen. Da er aber in dem Walde weder Weg noch Steg, noch auch die Huftritte eines Pferdes entdecken konnte, begann er, sobald er sich den Händen derer, die ihn gefangen, als auch der andern, die jene überfallen, erst sicher entronnen glaubte, zu weinen und war übermäßig traurig, weil er sein Mädchen nicht wiederfand. In allen Richtungen rief er durch den Wald hin nach ihr, doch niemand gab ihm[413] Antwort. Zurückzukehren getraute er sich nicht, und doch wußte er auch nicht, wohin er geraten könne, wenn er vorwärts ginge. Zugleich aber erschreckten ihn die wilden Tiere, die sich in den Wäldern aufzuhalten pflegten, sowohl um seiner selbst als um seines Mädchens willen, das er in Gedanken jeden Augenblick von einem Wolf oder Bär erwürgt werden sah. So trieb der unglückliche Pietro sich den ganzen Tag über unter Rufen und Wehklagen in dem Walde umher, wobei es denn oft geschah, daß er in die Richtung zurückritt, von der er gekommen war, während er vorwärts zu reiten wähnte. Endlich fühlte er sich von dem lauten Rufen, dem Weinen, der ausgestandenen Angst und dem langen Fasten so angegriffen, daß er nicht mehr von der Stelle konnte. Als nun die Nacht anbrach, stieg Pietro, der sich anders nicht zu raten und zu helfen wußte, vom Pferde, band es an eine hohe Eiche und kletterte dann, um nicht von den wilden Tieren zerrissen zu werden, auf die Äste. Bald danach ging der Mond auf, und der Himmel war klar und hell. Pietro aber enthielt sich aus Furcht, herunterzustürzen, des Schlafs, obgleich ihn auch in der sichersten und bequemsten Stellung sein Gram und seine Sorgen um das Mädchen nicht hätten schlafen lassen, so daß er unter Seufzern, Tränen und Verwünschungen seines Mißgeschicks wachend die ganze Nacht verbrachte.

Inzwischen war das Mädchen, wie wir schon oben erzählt haben, ohne einer andren Richtung zu folgen als der, auf welcher sie das Pferd nach eigener Lust davontrug, so weit in den Wald geflohen, daß sie die Stelle, wo sie hineingekommen war, nicht mehr erkennen konnte. Und so verbrachte denn auch sie, bald verweilend, bald umherirrend, bald rufend und bald ihr Unglück mit tausend Tränen beweinend, den ganzen Tag in dieser waldigen Wildnis. Als sie nun Pietro, da es schon Abend ward, noch immer nicht kommen sah, schlug sie einen kleinen Pfad ein, den sie gewahr geworden war. Das Pferd verfolgte die Spur, und als sie etwas über zwei Meilen weit geritten war, erblickte sie in der Ferne ein kleines Häuschen. Sie beeilte sich, dies so schnell wie möglich zu erreichen, und fand es von einem wackeren Manne, der hoch in den Jahren war, und von seiner ebenfalls betagten Frau bewohnt.[414]

Als diese sahen, daß sie allein war, sagten sie: »Ach, Tochter, was tust du um diese späte Stunde so allein hier draußen?« Das Mädchen erwiderte weinend, wie es den Gefährten im Walde verloren habe, und fragte dann, wie weit es noch bis Anagni sei. »Meine Tochter«, antwortete der gute Mann, »hier geht der Weg nach Anagni nicht vorüber, und es sind mehr als ein Dutzend Meilen bis dahin.« Darauf sagte das Mädchen: »Sind denn nicht wenigstens Häuser in der Nähe, wo man beherbergt werden kann?« Der gute Mann aber entgegnete: »Keines so nahe, daß du es noch bei Tage erreichen könntest.« »Wenn ich denn nirgends anders unterkommen kann«, erwiderte das Mädchen, »wäret Ihr dann so freundlich, mich diese Nacht aus Barmherzigkeit bei Euch zu behalten?« Darauf antwortete der gute Mann: »Mein Kind, es soll uns lieb sein, wenn du diese Nacht bei uns bleibst. Doch wollen wir dir im voraus sagen, daß übelgesinnte Heerhaufen beider Parteien bei Tag und Nacht diese Gegend zu durchstreifen pflegen und uns gar häufig großen Schaden und Verdruß antun. Würden wir nun zum Unglück, während du hier bist, von einer solchen Bande heimgesucht, so täten sie dir um deiner Jugend und Schönheit willen gewiß Schaden und Schande an, ohne daß wir dich im mindesten zu schützen vermöchten. Das haben wir dir im voraus sagen müssen, damit, wenn es wirklich geschehen sollte, du dich nachher nicht über uns beschweren könntest.« Sosehr die Worte des alten Mannes Agnolella erschreckten, sagte sie dennoch, die späte Stunde erwägend: »Gott wird, wenn es ihm gefällt, Euch und mich vor solchem Unglück schützen. Ist es aber über uns verhängt, so ist es immer noch besser, von den Menschen mißhandelt, als im Walde von den wilden Tieren zerrissen zu werden.«

Mit diesen Worten stieg sie vom Pferde, trat in das Haus des armen Mannes ein und teilte das spärliche Abendessen der guten Leute. Dann legte sie sich, angekleidet wie sie war, mit ihnen auf ihr Lager und fand die ganze Nacht über kein Ende, zu seufzen und neben ihrem eigenen Unglück das des Pietro zu beweinen, über dessen Schicksal sie sich ja auch nur den schlimmsten Vermutungen hingeben konnte.

Als es schon Morgen werden wollte, hörte sie die Tritte zahlreicher[415] Leute immer näher kommen. Besorgt vor der drohenden Gefahr ging sie in den weiten Hofraum, der hinter dem Häuschen lag, und verbarg sich dort in einem großen Heuhaufen, den sie in dem einen Winkel liegen sah, um nicht so bald gefunden zu werden, auch wenn jene Leute dorthin kommen sollten. Kaum hatte sie sich indes versteckt, als jene, die einen großen Heerhaufen bösen Raubgesindels bildeten, auch schon bei dem Häuschen angelangt waren und sich die Tür öffnen ließen. Wie sie nun eintraten und das Pferd des Mädchens noch völlig gesattelt und gezäumt fanden, fragten sie, wer denn da sei. Da der gute Mann das Mädchen nicht mehr sah, antwortete er: »Niemand als wir selber. Jenes Pferd aber, das Gott weiß wem entlaufen sein mag, hat sich gestern abend hier eingefunden, und da haben wir es ins Haus geführt, damit es die Wölfe nicht fressen sollten.« »Wenn es denn keinen Herrn hat«, sagte der Älteste jenes Gesindels, »so wird es gut für uns sein.« Nach diesen Worten verteilten sie sich, um das ganze kleine Haus zu durchsuchen. Andere besichtigten den Hof und legten der größeren Bequemlichkeit wegen Spieße und Schilde ab. Dabei geschah es aber, daß einer, ohne zu wissen, was er tat, seine Lanze in jenen Heuhaufen warf und dadurch um ein Haar den Tod des verborgenen Mädchens oder doch wenigstens seine Entdeckung herbeigeführt hätte; denn die Lanze drang noch mit solcher Kraft bis in die Gegend ihrer linken Brust, daß die eiserne Spitze die Kleidungsstücke durchschnitt und das arme Mägdlein aus Furcht, verwundet zu werden, schon im Begriff war, einen lauten Schrei zu tun, als es noch rechtzeitig bedachte, wo es sei, und sich hinlänglich zusammennahm, um stillzuschweigen.

Als nun das Gesindel, der eine hier, der andere da, die Zicklein und allerlei anderes Fleisch gebraten, gegessen und dazu getrunken hatte, ging es seinen ferneren Unternehmungen nach und führte das Roß des Mädchens mit sich hinweg. Erst nachdem sie schon eine gute Strecke weit entfernt waren, fragte der gute Mann seine Frau: »Was ist denn aber nur aus dem Mädchen geworden, das gestern abend bei uns einkehrte? Ich habe es doch heute morgen, seit wir aufgestanden sind, nicht mehr gesehen.« Die Frau erwiderte, sie wisse es nicht,[416] und ging, um sich nach ihr umzutun. Das Mädchen aber hatte sich inzwischen überzeugt, daß jene abgezogen waren, und schlüpfte wieder aus dem Heu hervor. Der gute Mann freute sich sehr, daß sie dem Gesindel nicht in die Hände gefallen war, und sagte, da es schon zu dämmern begann: »Nun, da der Tag anbricht, wollen wir dich, wenn es dir recht ist, zu einer Burg geleiten, die nicht weiter als fünf Meilen von hier gelegen ist und dir völlige Sicherheit bieten wird. Du wirst den Weg aber schon zu Fuß machen müssen, da das böse Volk, das eben hier war, dein Pferd mitgenommen hat.« Das Mädchen beruhigte sich leicht über diesen Verlust und bat die guten Leute, sie um Gottes willen zu jener Burg zu führen. Sofort machten sie sich auf den Weg und kamen noch vor der zweiten Tagesstunde dort an. Die Burg gehörte aber einem Anverwandten der Orsini namens Liello von Campo di Fiore, und es traf sich, daß seine Frau, eine vortreffliche und fromme Dame, eben um jene Zeit dort war. Als diese das Mädchen erblickte, erkannte sie es sogleich, empfing es auf das freundlichste und verlangte den ganzen Zusammenhang der Ereignisse, die es dorthin geführt hatten, zu hören. Das Mädchen erzählte ihr alles, und die Dame, der auch Pietro als ein Freund ihres Mannes bekannt war, betrübte sich über diesen Unfall, da sie aus der Beschreibung des Ortes, wo er gefangen worden war, mit Gewißheit glaubte schließen zu müssen, daß man ihn umgebracht habe. Deshalb sagte sie zu dem Mädchen: »Da du nun doch nicht weißt, was aus Pietro geworden ist, so bleibe hier bei mir, bis ich Gelegenheit finde, dich auf sichere Weise nach Rom zu schicken.«

Während indes Pietro, grenzenlos betrübt, noch auf seiner Eiche saß, sah er um die Zeit, wo andere Leute kaum eingeschlafen zu sein pflegen, wohl zwanzig Wölfe durch den Wald herantraben, welche sich sämtlich an sein Pferd machten, sobald sie dessen ansichtig geworden waren. Als das Pferd sie witterte, zerriß es gewaltsam die Zügel, mit denen es angebunden war, und suchte zu entfliehen. Da die Wölfe es aber von allen Seiten umringten und die Flucht ihm verwehrten, verteidigte es sich eine lange Weile mit Hufen und Zähnen, bis es am Ende dennoch von ihnen zu Boden geworfen,[417] erwürgt und sogleich in Stücke zerrissen ward. Die Wölfe verschlangen das Fleisch, ohne etwas anderes als Knochen zurückzulassen, und liefen dann wieder weiter. Pietro, der das Pferd als seinen Leidensgefährten betrachtet hatte, der seine Mühsal erleichtern half, entsetzte sich nicht wenig über diesen Anblick und gab nachgerade alle Hoffnung auf, aus diesem Walde herauszukommen.

Wie er sich nun immer wieder forschend umsah, erblickte er, schon gegen die Morgendämmerung, in der Entfernung von etwa einer Meile ein großes Feuer. Kaum erwartete er nach dieser Entdeckung den hellen Tag, um, wenn auch nicht ohne große Angst, von seiner Eiche herabzusteigen und die Richtung des Feuers zu verfolgen. Als er es endlich erreicht hatte, fand er Hirten ringsumher gelagert, die fröhlich ihr Frühstück verzehrten und ihn mitleidig aufnahmen. Sie hießen ihn mitessen und sich wärmen, worauf er ihnen sein Mißgeschick berichtete und erzählte, wie er allein dorthin geraten sei. Dann fragte er sie, ob es denn kein Landgut oder keine Burg in der Nähe gebe, wohin er sich wenden könne. Die Hirten sagten ihm, daß etwa drei Meilen von da eine Burg des Liello von Campo di Fiore sei, auf der sich eben die Frau des Besitzers befinde. Erfreut über diese Nachricht bat Pietro, daß jemand von ihnen ihn bis zur Burg begleiten möge, und sogleich fanden ihrer zwei sich gern dazu bereit.

Während Pietro, sobald er auf der Burg angelangt war, durch ein paar Bekannte, die er dort antraf, noch zu bewirken suchte, daß das Mädchen im Walde gesucht würde, ließ die Frau des Hauses ihn zu sich rufen. Er verfehlte nicht, sogleich zu gehorchen, und unbeschreiblich groß war seine Freude, als er Agnolella bei ihr fand. Kaum wußte er sich zu bezwingen, daß er ihr nicht gleich um den Hals fiel, und nur die Scheu vor der Dame vermochte ihn daran zu hindern. War aber er voller Freude, so fühlte das Mädchen sich nicht weniger glücklich. Als nun die Dame ihn mit vieler Höflichkeit bei sich aufgenommen und alles, was sich zugetragen, von ihm gehört hatte, tadelte sie ihn sehr, daß er sich gegen den Willen seiner Angehörigen vermählen wolle. Da sie jedoch gewahr ward, daß er durch dies alles in seinem Entschluß nicht wankend wurde[418] und auch das Mädchen gleiche Wünsche hegte, sagte sie: »Was gebe ich mir viel Mühe? Sie lieben sich, sie kennen sich, beide sind gleichmäßig mit meinem Manne befreundet, ihre Wünsche sind der Sittsamkeit nicht zuwider, und ich muß wohl glauben, daß Gott seine Einwilligung dazu gegeben hat, da er den einen vom Galgen, die andere vom Lanzenstich und beide vor den wilden Tieren gerettet hat. So möge es denn in Gottes Namen geschehen.« Darauf fügte sie, zu den beiden gewandt, hinzu: »Ist es denn noch immer euer Wille, Mann und Frau zu wer den, so ist es auch der meine, und die Hochzeit soll hier auf Liellos Kosten gefeiert werden. Dann werde ich euch auch mit euren Angehörigen wieder aussöhnen.« Pietro war entzückt über diesen Entschluß, und Agnolella war es womöglich noch mehr.

Die Hochzeit, welche die edle Dame so festlich gerichtet hatte, wie es sich dort im Gebirge tun ließ, wurde auf der Burg gefeiert, wo denn die beiden Liebenden mit unbeschreiblicher Lust die ersten Freuden der Liebe kosteten. Einige Tage darauf stieg die Dame mit den beiden zu Pferd und ritt unter guter Bedeckung mit ihnen zusammen nach Rom zurück, wo sie die Angehörigen Pietros zwar über alles, was er getan hatte, sehr erzürnt fand, wo es ihr aber dennoch bald gelang, den Frieden wiederherzustellen. Und von der Zeit an lebte Pietro mit seiner Agnolella in Ruhe und Freuden bis in ihrer beider Alter.

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 411-419.
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