Achte Geschichte

[447] Nastagio degli Onesti bewirbt sich um die Liebe einer Dame aus dem Hause Traversari und bringt, ohne Gegenliebe zu finden, dabei sein ganzes Vermögen durch. Auf die Bitten der Seinigen geht er eines Tages nach Chiassi und sieht dort, wie ein junges Mädchen von einem Ritter gejagt, getötet und dann von zwei Hunden gefressen wird. Darauf lädt er seine Familie, die Dame und ihre Angehörigen zu einem Mittagessen dorthin, und der Anblick des zerfleischten Mädchens und die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal erschrecken die Spröde so sehr, daß sie Nastagio zum Manne nimmt.


Als Lauretta schwieg, hub Filomena auf der Königin Geheiß also zu reden an:

So wie mitleidige Gesinnung an uns gelobt wird, ihr holden Damen, ahndet die göttliche Gerechtigkeit eine grausame auf das strengste, wo sie dergleichen unter uns antrifft. Um euch davon ein Beispiel zu geben und euch dadurch zu bewegen, daß ihr der Hartherzigkeit völlig entsagt, bin ich gesonnen, euch eine Geschichte zu erzählen, die nicht weniger euer Mitgefühl erwecken als euch ergötzen wird.

In Ravenna, einer uralten Stadt der Romagna, lebte einst eine Menge adeliger und vornehmer Leute, und unter diesen befand sich ein junger Mann namens Nastagio degli Onesti, der durch den Tod seines Vaters und eines Onkels über die Maßen reich geworden war. Dieser nun verliebte sich, wie es nichtverheirateten jungen Leuten zu geschehen pflegt, in die Tochter des Messer Paolo Traversari. Obwohl ihre Familie von viel älterem und besserem Geschlecht war als die seinige, hoffte er doch, durch seine Bemühungen, ihr zu dienen, allmählich ihre Gunst zu gewinnen. So unermüdlich, löblich und großartig aber auch die letzteren waren, brachten sie ihm doch keinerlei Nutzen, sondern es schien vielmehr, als ob sie ihm schadeten, so hart, unerfreulich und widerwillig erwies sich ihm das geliebte Mädchen, welches vielleicht um der eigenen vorzüglichen Schönheit und um des eigenen Adels willen so hochmütig und ungefüge geworden war, daß es weder ihn, noch was ihm irgend lieb war, leiden mochte.[448]

Diese Gesinnung der Geliebten wußte Nastagio so wenig zu ertragen, daß er nach vielen Klagen mehr als einmal im Begriff war, sich aus Schmerz das Leben zu nehmen. Wenn er sich aber dennoch einer solchen Tat enthielt, nahm er sich oft vor, jene Spröde völlig aufzugeben oder sie, wo möglich, ebenso zu hassen, wie sie ihn haßte. Alle diese Vorsätze blieben indes eitel; denn es war nicht anders, als ob seine Liebe im selben Maße wüchse, in dem seine Hoffnung abnahm.

Wie nun der junge Mann auf solche Weise beharrlich seine Liebe verfolgte und in seiner maßlosen Verschwendung fortfuhr, meinten einige seiner Angehörigen und Freunde, daß er dabei bald sich selbst und sein Vermögen aufgezehrt haben werde. Deshalb rieten sie ihm mehrmals und baten ihn, Ravenna zu verlassen und sich eine Zeitlang an einem andern Orte aufzuhalten, weil, wie sie glaubten, auf solche Art seine Liebe und seine Ausgaben abnähmen. Nastagio spottete zwar öfter über diesen Rat; da er jedoch auf ihre vielen Ermahnungen hin nicht immer nein sagen konnte, gab er ihnen endlich nach und ließ auch in der Tat keine geringeren Reisevorkehrungen treffen, als ob er nach Frankreich, Spanien oder sonst einem entfernten Lande hätte ziehen wollen. Als er dann aber zu Pferde gestiegen war und, von seinen zahlreichen Freunden begleitet, Ravenna verlassen hatte, ritt er nach Chiassi, einem vielleicht drei Meilen von der Stadt entfernten Orte, ließ Gezelte mancher Art herbeibringen und aufschlagen und erklärte denen, die ihm das Geleit gegeben, sie möchten nach Ravenna heimkehren, weil er hier zu verweilen gesonnen sei.

Unter diesen Zelten nun führte Nastagio wieder ein ebenso glänzendes und herrliches Leben wie je zuvor und lud nach alter Gewohnheit bald diese und bald jene zum Mittag- oder Abendessen. Eines Tages aber, ziemlich zu Anfang des Maien und bei wunderschönem Wetter, geschah es, daß Nastagio, ganz in Gedanken an die grausame Geliebte versunken, allen sei nen Leuten befahl, ihn allein zu lassen, um ungestörter seinem Trübsinn nachhängen zu können. So irrte er zweck- und ziellos umher, bis er zum großen Pinienwalde gelangte.

Schon war die Mittagsstunde beinahe herangekommen und Nastagio, unbekümmert um Speise, Trank und andere Dinge,[449] wohl eine halbe Meile weit in den Wald eingedrungen, als ihn plötzlich das laute Weinen und das verzweifelte Wehklagen eines Weibes, das er zu vernehmen glaubte, aus seinen süßen Träumereien schreckte. Da er nun aufblickte, ward er nicht allein zu seinem Erstaunen gewahr, daß er mitten im Pinienhaine sei, sondern er sah nach wenigen Augenblicken auch, wie gerade vor ihm, aus einem dichtverwachsenen Gebüsch von Strauchwerk und Dornen hervor, ein wunderschönes nacktes Mädchen mit fliegenden Haaren und von Stacheln und Ästen zerkratztem Leibe in vollem Laufe unter lautem Weinen und Rufen um Gnade der Stelle zueilte, an der er sich befand. Zu beiden Seiten folgten ihr zwei riesige und wütende Jagdhunde auf den Fersen und packten sie oft und unbarmherzig, wo sie sie erreichten. Hinterher aber jagte auf schwarzem Pferde und in dunkler Rüstung ein Ritter, dessen Gesicht vor Zorn glühte, den Degen in der Faust, und drohte mit entsetzlichen, schmähenden Worten, sie zu morden.

Nastagio wurde bei diesem Anblick zugleich von Staunen und Abscheu ergriffen. Dann aber weckte das Mitleid mit dem unglücklichen Weibe den Wunsch in ihm, wenn er es irgend vermöchte, ihre Qualen zu endigen und sie dem Tode zu entreißen. In Ermangelung einer Waffe griff er zu einem Baumast, mit dem er, statt eines Stockes, den Hunden und dem Ritter entgegenging. Der Ritter aber rief ihm, sobald er dies gewahr wurde, von weitem zu: »Laß ab, Nastagio, und überlasse mir und meinen Hunden, daß wir vollbringen, was dieses ruchlose Weib verdient hat.« Und nachdem er so gesprochen, packten die Hunde das Mädchen mit aller Kraft an den Weichen und hielten es fest. Während aber der Ritter hinzukam und vom Pferde sprang, trat auch Nastagio heran und sagte: »Obgleich ich nicht weiß, wer du bist, der du mich so gut zu kennen scheinst, kann ich dir doch soviel sagen, daß es eine höchst schmähliche Tat ist, wenn ein gewappneter Ritter ein nacktes Weib morden will und es von den Hunden packen läßt, als wäre es ein wildes Tier. Darum werde ich diese verteidigen, solange ich irgend kann.«

Darauf erwiderte der Ritter: »Nastagio, ich stamme aus der gleichen Stadt wie du, und du warst noch ein kleines Kind, als[450] ich, den man Messer Guido degli Anastagni nannte, in dies Mädchen hier wahrlich noch viel verliebter war, als du es jetzt in die Traversari bist. Ihr Hochmut aber und ihre Härte stürzten mich in solches Unglück, daß ich mich endlich mit dem Degen, den du hier in meiner Hand siehst, als ein Verzweifelter entleibte und deshalb zur ewigen Pein verdammt bin. Nicht lange darauf starb auch sie, die sich unmäßig über meinen Tod gefreut hatte, und wegen der Sünde der Hartherzigkeit und der Lust an meinen Qualen, welche sie im Wahn, nichts Ungerechtes, sondern etwas Verdienstvolles getan zu haben, nie bereute, wurde sie gleichfalls zu den Strafen der Hölle verurteilt. Als sie nun dorthin gelangte, wurde ihr und mir zur Strafe auferlegt, daß sie vor mir fliehen, ich aber sie, die einst so heiß Geliebte, nicht wie den Gegenstand meiner Liebe, sondern wie meine Todfeindin verfolgen muß. Sooft ich sie alsdann erreiche, so oft durchbohre ich sie mit diesem selben Degen, mit dem ich einst mich umgebracht, öffne ihr, wie du sogleich gewahren wirst, mit dem Messer die Seite, reiße das harte kalte Herz, in das weder Liebe noch Mitleid den Eingang zu finden wußten, samt den übrigen Eingeweiden aus ihrem Leibe und werfe es den Hunden hier zum Fraße vor. Dann vergehen nur wenige Augenblicke, und sie ersteht nach Gottes gerechtem Ratschluß durch seine Allmacht nicht anders vom Boden, als ob sie nie getötet worden wäre, und danach beginnen die klägliche Flucht und die Verfolgung durch mich und die Hunde von neuem. Da geschieht es denn, daß ich sie jeden Freitag um diese Stunde an diesem Platz einhole und so mißhandle, wie du sehen wirst. Doch wähne ja nicht, daß wir an den anderen Tagen ruhen, sondern wisse, daß ich sie dann an andern Punkten, wo sie Grausamkeiten gegen mich ersann oder vollführte, verfolge und erreiche. Weil ich nun aus einem zärtlich Liebenden ihr Feind geworden bin, muß ich sie ebenso viele Jahre in dieser Weise verfolgen, wie sie Monate hartherzig gegen mich gewesen ist. Laß mich also den Befehl der göttlichen Gerechtigkeit vollziehen und versuche keinen Widerstand gegen das, was du nicht hindern kannst.«

Von diesen Worten ganz eingeschüchtert, trat Nastagio, dem sich jedes Haar am Leibe sträubte, zurück und harrte angstvoll,[451] die Augen auf das unglückliche Mädchen gerichtet, was der Ritter vornehmen werde. Dieser aber stürzte am Ende seiner Rede wie ein wütender Hund auf das Mädchen los, welches, von den zwei Rüden festgehalten, auf den Knien lag und um Gnade rief, und rannte ihm mit aller Macht den Degen mitten durch die Brust, daß er zum Rücken wieder herausfuhr. Weinend und winselnd fiel die Ärmste von diesem Stoß zu Boden. Der Ritter aber griff zu einem Messer, klappte es auf und öffnete ihr damit die Seite. Dann weidete er ihr das Herz und alles, was um dieses herum lag, aus und warf es den Hunden vor, die es heißhungrig verschlangen. Doch dauerte es gar nicht lange, so erhob sich das Mädchen, als sei nichts von alledem geschehen, und begann in der Richtung auf das Meer zu die Flucht aufs neue. Hinter ihr her stürmten abermals die Hunde, die nicht abließen, sie zu zerfleischen. Auch der Ritter saß, den Degen in der Faust, wieder zu Pferde, und so schnell stürmten Flucht und Verfolgung dahin, daß nach wenigen Augenblicken Nastagio nichts mehr von allem gewahr ward.

Noch lange verweilte er, nachdem dieses Schauspiel an ihm vorübergezogen war, zwischen Mitleid und Furcht schwankend. Dann aber gedachte er plötzlich, wie dieses Ereignis, da es sich alle Freitage wiederhole, geeignet sei, ihn in seinen Wünschen wesentlich zu fördern. Darum merkte er sich die Stelle und ließ, zu seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort heimgekehrt, mehrere seiner Angehörigen und Freunde aus Ravenna zu sich entbieten. »Wohlan«, sagte er zu ihnen, als sie gekommen waren, »schon lange habt ihr mich gedrängt, daß ich von der Liebe zu jener meiner Feindin ablassen und meiner Verschwendung Einhalt gebieten möge. Jetzt bin ich bereit, es zu tun, jedoch unter der Bedingung, daß ihr zuvor noch Messer Paolo Traversari dazu bewegt, mit Frau und Tochter und allen Damen seiner Verwandtschaft am nächsten Freitag zusammen mit euch und den andern Damen, die ihr wählen möget, das Mittagessen hier bei mir einzunehmen. Warum ich dies verlange, werdet ihr alsdann erfahren.« Jene achteten dies für kein großes Begehren und luden, nach Ravenna zurückgekehrt, als es ihnen an der Zeit schien, die im voraus verabredeten[452] Personen. War es nun auch nichts Leichtes, das von Nastagio geliebte Mädchen zur Einwilligung und Teilnahme zu bestimmen, so kam sie doch mit den übrigen zum Feste.

Nastagio ließ ein verschwenderisches Mittagsmahl herrichten und die Tafel unter den Pinienbäumen rings um die Stelle ordnen, wo er die Strafe des hartherzigen Weibes mit angesehen hatte. Dann wies er Männern und Frauen ihre Plätze an, wobei er den Sitz seiner Geliebten so gewählt hatte, daß der Fleck, an dem er die Wiederholung jenes Schauspiels erwartete, ihr gerade gegenüber war.

Schon war man bis zum letzten Gang gediehen, als das Geschrei des gejagten Mädchens zu aller Ohren zu dringen begann. Alle befremdeten diese angstvollen Laute, jeder fragte, woher sie rührten, aber keiner vermochte Auskunft zu geben. Aufgeschreckt erhoben sich alle und blickten unverwandt nach der Seite, von der das Geräusch kam. Da gewahrten sie das jammernde Mädchen, den Ritter und die Hunde, und alsbald waren diese alle mitten unter den Gästen. Mit heftigen Scheltworten wehrten diese sowohl dem Ritter als auch den Hunden, und viele traten vor, um dem Mädchen beizustehen. Die Erzählung des Ritters, die er ihnen fast in denselben Worten wiederholte, mit denen er früher zu Nastagio gesprochen hatte, ließ sie indes nicht nur von ihrem Vorhaben abstehen, sondern erfüllte sie mit Staunen und Entsetzen. Unter den anwesenden Damen waren viele dem wehklagenden Mädchen, andere dem Ritter verwandt und erinnerten sich seiner Liebe und seines Todes. Als aber dieser sein grausames Beginnen so wie kürzlich vollführte, weinten alle ebenso bitterlich, als wäre ihnen dasselbe am eigenen Leibe geschehen.

Als nun alles zu Ende gebracht und der Ritter verschwunden war, sprachen die, welche dem Schauspiel zugesehen hatten, noch viel und mancherlei darüber. Am meisten aber vor allen andern hatte Nastagios spröde Geliebte sich entsetzt; denn da sie der Grausamkeit gedachte, die sie stets gegen jenen geübt hatte, fühlte sie wohl, daß alles, was sie mit Auge und Ohr deutlich wahrgenommen, keinen der Anwesenden näher angehe als eben sie, und es war ihr nicht anders, als jage jener sie schon ergrimmt durch den Wald und die Hunde packten sie in[453] den Weichen. Und so groß war die Furcht vor diesem Schicksal, daß sie in schnellem Wechsel von Haß zu Liebe die Zeit nicht erwarten konnte, eine vertraute Dienerin insgeheim zu Nastagio zu senden und ihn um seinen Besuch bitten zu lassen, da sie bereit sei, alles zu tun, was ihm gefallen werde. Und die Gelegenheit dazu bot sich noch am selben Abend. Darauf ließ ihr Nastagio erwidern, die Botschaft sei ihm sehr willkommen, er gedenke aber, wenn es ihr gefalle, nur in Ehren ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, indem er sich ehelich mit ihr vermähle.

Die junge Dame wußte wohl, daß es nur an ihr gelegen hatte, wenn sie nicht schon längst Nastagios Gemahlin geworden war. Sie antwortete daher, sie sei dessen wohl zufrieden. Dann meldete sie als ihre eigene Botin ihrem Vater und ihrer Mutter, daß sie jetzt den Nastagio zu heiraten bereit sei. Beide waren darüber sehr erfreut, und schon am nächsten Sonntag wurde das junge Paar feierlich verlobt. Dann hielten sie Hochzeit und lebten miteinander noch lange Jahre glücklich. Es hatte aber jenes Ereignis nicht nur diese eine glückliche Folge, sondern alle Damen Ravennas wurden dadurch so eingeschüchtert, daß sie den Wünschen der Männer seitdem um vieles geneigter geworden sind als zuvor.

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 447-454.
Lizenz:
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