Erste Geschichte

[479] Ein Edelmann sagt zu Madonna Oretta, er wolle ihr den Weg durch eine Geschichte so sehr verkürzen, daß sie glauben werde, sie sitze zu Pferde. Als er sie darauf ungeschickt erzählt, bittet sie ihn, daß er sie wieder absteigen lasse.


Wie in hellen Nächten die Sterne der Schmuck des Himmels und im Frühling die Blumen die Zierde der grünen Wiesen und die neubelaubten Bäume der Schmuck der Hügel sind, so, ihr jungen Mädchen, gereichen glückliche Einfalle den lobenswerten Sitten und verständigen Reden zu besonderer Zier. Weil aber ein Witzwort seiner Natur nach kurz ist, so kleidet es uns Frauen in eben dem Maße besser, in dem viel zu sprechen uns weniger als den Männern ziemt. Wahr ist freilich, daß zur gemeinsamen Schande für uns alle (möge nun die Schuld in der[479] Dürftigkeit unseres Verstandes oder in einer besonderen Ungunst der Gestirne, die über unser Jahrhundert verhängt ist, zu suchen sein) jetzt nur wenig Frauen zu finden sind, ja vielleicht keine, die zur rechten Zeit einen guten Einfall zu sagen, oder wenn ein anderer dergleichen gehabt, ihn gehörig aufzufassen vermöchte. Weil indes Pampinea darüber früher schon hinlänglich gesprochen hat, so denke ich nichts weiter darüber zu sagen. Wohl aber will ich, um euch zu zeigen, wieviel Hübsches in einem guten Einfall zur rechten Stunde liegt, berichten, wie eine Dame geschickt einem Edelmann Stillschweigen zu gebieten wußte.

Wie manche von euch aus eigener Erfahrung oder doch vom Hörensagen wissen mag, weilte vor noch nicht langer Zeit in unserer Stadt eine Edeldame, die von erlesenen Sitten und der Rede kundig war. Da ihre rühmlichen Eigenschaften nicht verdienen, daß ihr Name verschwiegen werde, will ich euch berichten, daß sie Madonna Oretta hieß und des Messer Geri Spina Gemahlin war. Nun geschah es zufällig, als sie einmal, so wie auch wir eben tun, auf dem Lande verweilte, daß sie mit mehreren anderen Damen und Edelleuten, die sie an jenem Tage bewirtet hatte, zu ihrem Vergnügen von einem Orte zum andern lustwandelte. Da indes die Entfernung zwischen ihrem Ausgangsort und dem Ziel, das sie sämtlich zu Fuß erreichen wollten, vielleicht etwas groß war, sagte ein Edelmann aus der Gesellschaft: »Madonna Oretta, beliebt es Euch, so will ich Euch einen großen Teil des Weges, den wir noch vor uns haben, durch eine wunderschöne Geschichte so sehr verkürzen, daß Ihr glauben sollt, Ihr säßet zu Pferde.« Darauf antwortete die Dame: »Nicht nur beliebt es mir, ich bitte Euch sogar darum, und es soll mir höchst willkommen sein.«

Der Herr Ritter, der seinen Degen im Streit wohl auch nicht besser zu führen wußte als zum Erzählen seine Zunge, fing nach dieser Erlaubnis eine Geschichte an, die in der Tat an sich gar schön war, die er aber jämmerlich verdarb, da er bald das gleiche Wort vier- und fünfmal wiederholte, bald auf das schon Gesagte zurückkam, bald sich mit dem Ausruf: »Nein, das hab ich falsch erzählt!« unterbrach, bald endlich die Namen falsch sagte oder untereinander verwechselte, ganz zu schweigen, daß[480] seine Worte weder dem Charakter der Personen noch den erzählten Ereignissen irgend entsprachen.

Der Madonna Oretta brach über diesem Erzählen der Angstschweiß aus, und es wurde ihr beklommen ums Herz, als wäre sie krank. Endlich aber konnte sie es nicht mehr aushalten, und da sie gewahr wurde, daß der Edelmann in die Tinte geraten war und nicht wieder herausfand, sagte sie scherzhaft: »Messer, Euer Pferd hat einen harten Trab. Drum bitt ich Euch, laßt mich wieder absteigen.« Der Edelmann, der zum Glück geschickter im Verstehen als im Erzählen war, fühlte den Stachel und kehrte ihn zu Scherz und Heiterkeit. Dann aber wendete er sich andern Geschichten zu und ließ die eine, die er begonnen und schlecht ausgeführt hatte, unbeendigt.

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 479-481.
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