Das Licht, vor dessen Glanz die Nacht entflieht, hatte schon zum achten Male das dunkle Blau des Himmels in Helle verwandelt, und auf den Wiesen begannen die Blumen sich aufzurichten, als Emilia sich erhob und ihre Gefährtinnen und die jungen Männer rufen ließ. Als diese erschienen, folgten sie den langsamen Schritten der Königin und begaben sich so zu einem Wäldchen, nicht weit vom Schlosse. Hier fanden sie verschiedene Tiere, Rehe, Hirsche und andere, die sich bei der drohenden Pestilenz vor dem Jäger so sicher fühlten und sie so zutraulich herankommen ließen, als ob sie aller Furcht ledig und völlig zahm geworden wären. Die Damen und die jungen Männer aber näherten sich bald diesem und bald jenem Tier, als wollten sie es ergreifen, und machten sich ein Vergnügen daraus, es laufen und springen zu lassen.

Als die Sonne jedoch höher stieg, schien es allen an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Jeder war mit Eichenlaub bekränzt und trug wohlriechende Kräuter oder Blumen in den Händen. Wer sie so angetroffen, hätte nicht anders sagen können, als daß sie dem Tode entweder unbesieglich trotzten oder doch heiter und froh von ihm ereilt würden. So Schritt für Schritt lustwandelnd, singend, schwatzend und schäkernd, gelangten sie zum Palast, wo sie alles hübsch geordnet und die Diener froh und munter fanden.

Nachdem man sich hier ein wenig ausgeruht, ging man nicht eher zu Tisch, als bis sechs Lieder, eines immer heiterer als das andere, von den jungen Männern und den Damen gesungen worden waren. Danach ward das Wasser für die Hände gereicht, und der Seneschall setzte sie nach dem Willen der Königin um den Tisch, wo man, nachdem die Speisen aufgetragen waren, fröhlich zur Mahlzeit schritt.[691]

Von dieser aufgestanden, überließ man sich wieder eine Zeitlang dem Gesange und dem Spiel. Dann konnte nach dem Willen der Königin zur Ruhe gehen, wer da wollte. Als jedoch die gewohnte Stunde gekommen war, versammelten sich alle wieder an der bekannten Stelle zum Erzählen. Hier blickte die Königin Filomena an und gebot ihr, mit den Erzählungen dieses Tages zu beginnen. Diese aber fing lächelnd also an:

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 690-692.
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