XLV.

Ein taub und stumm Gebohrner, der plötzlich das Gehör und die Sprache bekam.

[92] Ein Mensch, der aller derjenigen Hülfsmittel beraubet wäre, welche unser Gehirn, um urtheilen zu können, nothwendig von der Erziehung und dem Umgang mit andern Menschen erlangen muß, würde ein Wesen von wenigen Denken und noch wenigern Urtheilen seyn! Wäre er noch über dieses des Gesichts, Gehörs und des Gefühls beraubet, was würde er wohl anderst als eine von Erdsaft sich nährende Massa oder ein wirklicher Crysolit seyn? Folgender Zufall bestätiget zum Theil diese Meynung. Ein junger Mensch von vier bis fünf und zwanzig Jahren, der von Geburt taub und stumm war, fieng, zur grösten Verwunderung der ganzen Stadt Chartres, wo sich dieser besondere Zufall ereignete, plötzlich an zu reden. Man erfuhr von ihm, daß er vier oder fünf Monat vorher den Schall der Glocken gehöret hatte, und über diese neue und ihm ganz unbekannte Empfindung in ein ausserordentliches Erstaunen gerathen war, daß ihm nachhero eine Art eines Wassers aus dem linken Ohr gelaufen war, worauf er auf beyden Ohren vollkommen gehöret hatte. Er redete inzwischen innerhalb drey bis vier Monaten[93] kein Wort, gewöhnte sich aber, die Worte die er hörte, ganz leis zu wiederholen, und machte sich die Aussprache und die mit den Worten verknüpften Begriffe bekannt und geläufig: als er sich endlich für tüchtig und geschickt genug hielte, das Stillschweigen zu brechen, sagte er, daß er reden könnte, wiewohl noch sehr unvollkommen. Es kamen so dann so gleich geschickte Gottesgelehrte, und befragten ihn wegen seines vorigen Zustandes, ihre hauptsächlichsten Fragen aber giengen auf GOtt, auf die Seele, und auf das moralische Gute und Böse der Handlungen. Man fande, daß sich seine Gedanken nicht so weit erstrecket hatten, ob er gleich von catholischen Aeltern gebohren war, der Messe beywohnte, und ein Kreuz zu machen, und in der Stellung eines Menschen, der betet, niederzuknien angewiesen worden war: er hatte niemals einige Absicht damit verbunden. Ist es also nicht an dem, daß dieser junge Mensch, von dem in der Geschichte der Academie der Wissenschaften A. 1703. p. 18. geredet wird, den grösten Theil seiner Begriffe dem gegenseitigen Umgang mit denen, die um ihn waren, und der guten Einrichtung seiner Werkzeuge des Gefühls und Gesichts zu danken hatte?

Quelle:
[Dumonchaux, Pierre-Joseph-Antoine] : Medicinische Anecdoten. 1. Theil, Frankfurt und Leipzig 1767 [Nachdruck München o. J.], S. 92-94.
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