LXIII. Brief

An Fanny

[159] Von tiefem Schmerz angeschwollen ist mein Herz über die Streiche meines grausamen Schiksals! – Sie ist hin, meine innig geliebte Schwester, sie ist todt! – Der Gram hat sie geopfert! – Sie haben ihren Zwek erreicht, die Mörder ihres Lebens! – Sie haben sie so lange gequält, gemartert, gepeinigt, bis der schwache Körper mürbe war zum Grabe, das man ihr vorsezlich grub! – – Menschen-Grausamkeit geht über allen Ausdruk, denn sie ist so manchfaltig, und hat so viele heimliche Triebfedern zu ihrer Ausübung. – Ich glaube, daß der Richter einst nichts so unbarmherzig strafen wird, als die Thränen, die man seinem Nebenmenschen abpreßt. – Wenigstens scheint in der Natur nichts sträflicheres, als dieses! – Und doch richten sich die Menschen untereinander lachend zu Grunde! – Also habe ich denn jezt Alles mit dieser einzigen Schwester verloren, was meinem[159] Herzen theuer war? – Nun so bin ich denn hingeworfen, in die weite, für mich trostlose Schöpfung! – Vater, Mutter, Schwester, alles ruht in der unendlichen Ewigkeit! – Sie haben mich zurükgelassen, die Grausamen, in einer Welt, wo vielleicht keine Seele mehr mein Herz zu schäzzen weis. In einer Welt, wo ich, ohne von den Banden des Bluts gefesselt zu seyn, verlassen herumirre. – Nichts werde ich diesen Theuren mehr mittheilen können, jede Last muß ich jezt allein tragen! – Zutrauen, Mittheilung, Linderung im Kummer, in welchem Menschenherz werde ich euch wieder finden? – Wenn mein Gatte mein unendlich fühlbares Herz verkennte, wenn er mit Leichtsinn darüber hinweghüpfte? – Wenn ihm die Feinheit meiner Empfindungen unbegreiflich wäre? – Wenn ich mich irren sollte in seinem Karakter? – O Tod! – Tod! – wie willkommen wärst du mir dann! – Noch ist er nicht zurük, dieser einzige Mann in der Natur, auf dem mein Wohl oder mein Elend beruht. – Er schrieb mir, daß er meine Schwester mitten im hizzigen Fieber angetroffen hätte, daß ihr erster und lezter Laut mein Namen gewesen wäre, daß es ihn fast vor Wehmuth erstikt hätte, diese Unschuld, diese Jugend am Rande des Grabes zu finden! – Daß die Nonnen die Ursache ihrer Krankheit läugneten, und daß der Vormund mehr als jemals den Heuchler spielte. Mit Engelssanftmuth starb diese Dulderin der Menschenbosheit! – Mit inniger Seelengüte drükte sie meinen Mann, statt meiner, an ihre sterbenden Lippen. – Mit der heiligsten Wahrheit einer Sterbenden beschwor sie ihn, mir Alles zu werden, was zu meinem Trost gereichen könnte! – Und so, meine Fanny, flog ihr Geist in die Arme ihres Erlösers. Ewig wird mir diese einzige geliebte Schwester unvergeßlich bleiben! – Ich liebte sie eben so leidenschaftlich, wie ich überhaupt ohne Unterschied des Geschlechts zu lieben pflege. Denn meine Liebe ruht in der[160] Güte des Herzens und nicht in der Wollust. Mit brennender Sehnsucht, mit marternder Ungeduld, kann ich den Tag kaum erwarten, wo mein Gatte zurükkehren wird. – Er wird mein Vermögen mitbringen, und wie glüklich bin ich, daß ich dadurch das seinige vergrößern kann! – Bis jezt hab ich aus Verwirrung der Umstände nicht im geringsten Einsicht in seine ökonomische Lage bekommen. Wenn er ein Betrüger seyn wollte, er könnte sein Vermögen ganz verschwenden, ohne daß ich den geringsten Anspruch darauf machen könnte, denn ich habe mich in der rasenden Angst blos an seine Ehrlichkeit verheirathet. – Glaube mir, Fanny, der Mensch gehört in gewissen entscheidenden Augenblikken nicht sich selbst zu. Ist meine Heirath nicht ein Beweis davon? – Die Leidenschaft des Mitleidens bemächtigte sich meiner, und die kalte Ueberlegung bei einem so gewagten Schritt kam da zu spät, wo die Schwesterliebe so mächtig sprach! – Ich habe gelernt das Elend Anderer tiefer zu fühlen als das meinige. Ich habe ein Herz, das nur dann zufrieden ist, wenn Andere es auch sind, Nächstenliebe war mir von Jugend an heilig und feurig ins Herz geschrieben, und wenn es etwa eine Strohseele gelüsten sollte, meine Handlung für übertrieben anzusehen, die will ich auf das Gesez Gottes zurükweisen, das uns laut zuruft; Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! – Und wer war mir näher als meine Schwester? – Wen liebte ich dazumal feuriger als meine theure Louise? – O du holder verklärter Schatten blikke zuweilen herab mit Mitleiden auf deine hinterlassene Amalie! – Sey mein Schuzgeist im Leiden, meine Führerin auf den felsigten Wegen der gefährlichen Welt! – Deine Unschuld sey meine Fürsprecherin vor dem Throne des Allmächtigen! – Deine Tugend meine Begleiterin, und dein Andenken halte mein Herz der Rechtschaffenheit offen. Traurig ohne Dich werden meine Tage dahinschleichen; aber[161] die Hofnung, Dich einstens dort wieder zu sehen, wird mir Stärke und Muth verleihen. Die Thränen, die ich jezt während dieses Briefs weine, seyen deiner Liebe geweiht, die Du mir in deinem lezten Athemzug noch zuhauchtest. – Liebste, beßte Fanny! – Schreibe es meiner Lage zu, wenn ich deine Seele mit Bildern der finstern Schwertnuth anfülle. Wer sollte nicht darüber nachdenken and empfinden? – wenn eben diese Lage mein Herz von allen Seiten angreift! – Hab Geduld, habe Nachsicht mit deiner unendlich leidenden


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 159-162.
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