Ein Lebtag

[106] Wir lagern in dem grünen Gras,

Wir ruhn im goldnen Sonnenschein,

Es blitzt der Wein im grünen Glas,

Es blitzt vom Aug der goldne Wein.

Abwechselnd Küsse geben

Dem Liebchen und den Reben,

Die Herzen und die Becher voll,

Ja – ja das heiß ich Leben!


Uns blaut der Himmel ins Gesicht,

Der laute Strom erquickt das Ohr,

Uns malt der Ferne Zauberlicht

Gar wunderselge Träume vor.

So Arm in Arm geschlungen,

Von Lieb und Wein durchklungen,

Sei durch den grünen hallenden Wald

Der Freude Preis gesungen.
[106]

Hört ihr das milde Säuseln schon?

Es kündet schattenvolle Ruh,

Es wispert durch die Buchenkron

Und küßt im Gras die Blumen zu,

Es rauschet auf und nieder

Wie singendes Gefieder,

Das sind der Tageskönigin

Schauersüße Schlummerlieder.


Und vor uns glüht der Himmel auf,

Auch wir sind rosig überhaucht,

Vollendet ist der Sonnenlauf!

Der große Stern ins Meer getaucht.

Die letzten Perlenfunken

Zum Scheidegruß getrunken!

Füllt an, füllt an, uns hat das Licht

Auf Wiedersehn gewunken.


Schaut um und auf! im tiefen Blau

Der goldne Brachmond schwimmt heran,

Er wandelt durch die Sternenau

So leuchtende verschwiegne Bahn.

Steht auf, steht auf, Genossen!

Die Nacht ist ausgegossen –

Den kühnen Wünschen in der Brust

Die Herzen aufgeschlossen!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 106-107.
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