1.

[90] Wer unter Racheplänen

Bei Tag im Finstern schleicht,

Wer seines Nächsten Thränen

Auf's Butterbrod sich streicht,

Gleicht der nicht einem Blinden,

Der durch sich selbst genarrt

Sich weiß zurecht zu finden

In keiner Gegenwart?
[90]

Wie lange noch will scheinen

Der Mond auf Menschenwitz,

Wie lange noch soll weinen

Verlust um Vollbesitz?

Wie lange noch, o frage

Nicht Du noch Du und Du,

Es trocknet jede Klage

Vor ihrer Thräne zu.


So will ich mich verkriechen

In's tiefre Selbst hinab,

An Wunderblumen riechen,

Die mir der Abgrund gab,

Der Abgrund meiner Seele,

Der kühle Herzensschacht,

Drin ehmals Gabriele

Entfinsterte die Nacht.


Fahr wohl, mein Aberglaube,

Leb' wohl, mein blauer Traum!

Dem Wehmuthswurm zum Raube

Ward meines Lebens Baum.

Ich lebe todt für's Leben,

Der Rabe meines Hirns,

Was soll ich weiterweben?

Die Götter sie verwirrn's.


Quelle:
Ludwig Eichrodt: Lyrischer Kehraus. Lahr 1869, S. 90-91.
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