Der Radfahrer

[16] Ein köstlicher Sommertag. In Hemdsärmeln – der Hitze wegen trug ich den Rock an meinem Gangstöckerl, wie der Bayer sagt, auf der Schulter – schlenderte ich auf der Landstraße hin, seelenvergnügt. Von jeher: Je heißer mich die Sonne bescheint, um so fröhlicher werd' ich.

Aus dem noch frischen Grün der die Felder von der Straße abgrenzenden hohen Knicks – nur die vorderen Büsche bedeckte bis zur halben Höhe der weiße Staub des Weges – leuchteten und dufteten hin und wieder die blassblauen Traubenbüschel der Syringen, schimmerten die zartfarbigen Blüten des Rotdorns. Auf den Feldern das grüne Gewoge der Saaten, da heraus und drüber das Quinkilieren der Lerchen. Von näher und ferner gelegenen Weideplätzen das Brüllen der Kühe. Und über allem der strahlende, wolkenlose Junihimmel. Nur wenigen Leuten begegnete ich. Es waren: ein Bauer mit einer Fuhre Dünger, gleich darauf der Landbriefträger mit hochrotem, schweißbeperltem Gesicht. Eine Viertelstunde später: eine braunwangige, dralle Bauerndirne. Die vollen bloßen Arme stramm in die Hüften gestemmt, trug sie an der wuchtenden, umhalsenden Tracht zwei rote mit blitzenden Messingreifen umlegte Milcheimer.[16]

»Go'n Dag.«

»Goden Dag ok, lütt Dirn.«

Sie lachte übers ganze Gesicht, auf dem es wie ein Abglanz des reichlich mit Öl oder Butter getränkten strohblonden Haares lag.

Dicht vor mir bog sie in einen schmalen Seitenweg ein, der nach irgend einem versteckt liegenden Hof oder einer Kate führen mochte.

Wie ich sie liebe, diese schmalen Seitenwege, die sich irgendwo ins Ungewisse, Märchenhafte zu verlieren scheinen.

An dieses Mädchen noch denkend, höre ich auf einmal hinter mir ein surrendes, sausendes Geräusch. Dann, ehe ich mich noch umgesehen, das bekannte Glockensignal der Radfahrer. Und schon braust er heran, einen eleganten Bogen um mich beschreibend, ein schlanker, schneidiger Sportsman.

Einige Schritte vor mir zügelt er, bewundernswert, mit einem Ruck sein Stahltier und zieht die Mütze:

»Bin ich auf dem rechten Weg nach Schwinkuhl?«

Kaum hatte ich artig bejaht, erkannte ich auch schon den Frager. Es war der Tod.

Mit verbindlichem Lächeln nickte er mir Dank und sauste davon. Zitternd, wie gelähmt, starrte ich ihm nach.

Da die Landstraße hier eine weite Straße in schnurgerader Richtung lief, konnte ich ihn lange verfolgen. Wie ein Pfeil raste er dahin.[17]

Plötzlich – eine scharfe Biegung nach rechts, hart an den Graben heran, und bevor ich zur Bewunderung dieser gewagten Kurve kam, oder war sie ungewollt, sah ich ihn stürzen, Rad und Reiter sich überschlagen.

War er an einen Chausseestein geraten? Ich fand das Rad in völlig verbogenem, beschädigtem Zustand im Wege liegen, drum herum, nach allen Richtungen zerstreut, unzählige Knochen und Knöchelchen, ein ganzes Gerippe, zerspellt, zersplittert.

Auf dem Rand des Grabens aber saß, dumm glotzend, und sich die hohe kahle Stirn reibend, der Kritiker des allgemeinen deutschen Bier- und Intelligenzblattes, Herr Dr. Skatmann-Kannegießer.

»Nicht mal hier hat man sein' Ruh',« brummte er mich an.

Ich war wirklich in Verlegenheit. Sollte ich ihn umarmen, weil er den Tod zu Fall gebracht hatte, oder sollte ich mich und meine hunderttausend deutschen Mitdichter bedauern, dass ein Mann mit einem so dicken Schädel – – aber was war das? Wo soeben der Tod den Tod fand – welch ein Wunder! Belebte sich der Staub? Hier, da, dort – welch ein Knospen, Sprießen, Wachsen. Ein Wald voll Blüten um mich, berauschende Düfte, zitternde freudeschluchzende Töne, Leben, Leben, tausendfach sich vertausendfachendes Leben mich umdrängend, überdrängend.

Mir schwanden die Sinne....[18]

Quelle:
Gustav Falke: Mynheer der Tod. Hamburg 1900, S. 16-19.
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