Erstes Kapitel.

[89] Enthält wenig oder nichts.


Der Leser wird so gefällig sein, sich zu erinnern, daß wir ihm zu Anfang des zweiten Buches dieser Geschichte einen Wink von unserem Vorsatze gegeben haben, daß wir verschiedene lange Zeitperioden, in welchen nichts vorgefallen, das in unserer Chronika aufgezeichnet zu werden verdiente, völlig überschlagen würden. Bei dieser Verfahrungsart ziehen wir nicht nur unsere eigene Würde und Bequemlichkeit zu Rate, sondern auch den Nutzen und Vorteil des Lesers, denn überdem, daß wir ihn dadurch abhalten, seine Zeit beim Lesen solcher Dinge wegzuwerfen, die ihm weder Nutzen noch Vergnügen schaffen können, geben wir ihm bei allen solchen Lücken eine Gelegenheit, seinen erstaunlichen Scharfsinn zur Ausfüllung dieser leeren Zeiträume mit seinen eigenen Konjekturen anzuwenden, und wir sind besorgt gewesen, ihn in den vorhergehenden Blättern zu diesem Unternehmen tüchtig zu machen.

Wo ist zum Exempel der Leser, welcher nicht wisse, daß Herr Alwerth über den Verlust seines Freundes jene Bewegungen der Traurigkeit fühlte, welche bei solchen Gelegenheiten alle Menschen ergreift, deren Herzen nicht aus Kieselsteinen, oder deren Köpfe nicht aus ebenso harter Materie gemacht sind? Ferner, welcher Leser weiß nicht, daß Philosophie und Religion mit der Zeit die Traurigkeit mäßigt und endlich gar hinwegnimmt? Die erste dieser beiden, indem sie die Thorheit und Eitelkeit derselben lehrt, und die letzte, indem sie solche, als unserer Pflicht entgegenlaufend, bestrafet und zu gleicher Zeit durch solche Hoffnungen und Zusicherungen besänftigt, welche ein starkes und frommes Gemüt fähig machen, von einem Freunde auf seinem Sterbebette mit etwas minderer Gleichgültigkeit Abschied zu nehmen, als wenn er zu einer[89] langen Reise Vorkehrungen träfe, und freilich auch mit etwas weniger Hoffnung, ihn wiederzusehen.

Ebensowenig kann auch der verständige Leser in Ansehung der Frau Brigitta Blifil in Verlegenheit sein, welche, wie er ihr nur dreist glauben mag, die ganze Zeit hindurch, welche sie in äußerlicher Traurigkeit des Körpers zu erscheinen hatte, sich nach den strengsten Regeln der Gewohnheit und des Wohlstandes betrug und die Veränderung ihrer Mienen genau nach der Aenderung in den Trauerkleidern einrichtete. Denn sowie diese von der dichten Florkappe bis zur schwarzen Kreppe, von der Kreppe zum Grauen, vom Grauen zum Weißen, und endlich von Franzen zu Spitzen sich abändert, ebenso veränderten sich ihre Mienen und ihr Gesicht vom Untröstlichen zum Gram, vom Gram zur Betrübnis, von der Betrübniß zum Traurigen, vom Traurigen zum Ernsthaften, bis der Tag ankam, da es ihr erlaubt war, zu ihrer vormaligen Heiterkeit zurückzukehren.

Wir haben dieser beiden Exempel bloß als solcher Aufgaben erwähnt, die man den Lesern von der niedrigsten Klasse vorlegen kann. Von den höher Graduierten in der edlen Kunst der Kritik kann man nach aller Billigkeit weit schwerere und mühsamere Uebungen der Beurteilungskraft und des Scharfsinns erwarten. Von solchen werden, wie ich nicht zweifle, manche merkwürdige Entdeckungen gemacht werden über die Begebenheiten, welche in der Familie unseres würdigen Mannes alle die Jahre hindurch vorfielen, die wir für ratsam erachtet haben, zu überschlagen. Denn obgleich während dieser Zeit nichts vorging, welches einen Platz in dieser Geschichte verdiente, so ereigneten sich doch verschiedene Zufälle von gleicher Wichtigkeit mit denen, welche die täglichen und wöchentlichen Geschichtschreiber unserer Zeit zu Papiere bringen, bei deren Lesung eine große Anzahl Menschen einen wichtigen Teil ihrer Zeit hinbringen und zwar, wie ich fürchte, mit gar geringem Nutzen. Nun kann man aber bei den hier vorgeschlagenen Konjekturen einige der vortrefflichsten Geistesfähigkeiten mit vielem Vorteil üben, indem es eine weit nützlichere Kunst ist, die Handlungen der Menschen unter allerlei Umständen aus ihrem Charakter vorherzusagen, als ihre Charaktere aus ihren Handlungen zu beurteilen. Das erste, gesteh' ich, erfordert tiefere Einsichten, ist aber bei wirklichem Scharfsinn mit so großer Gewißheit thunlich, als das letzte.

Da wir einsehen, daß der ungleich größeste Teil unserer Leser diese Eigenschaft in einem sehr hohen Grade besitzt, so haben wir ihm einen Zeitraum von zwölf Jahren überlassen, woran er solche üben kann, und wollen nun unsern Helden in einem Alter von[90] ungefähr vierzehn Jahren auftreten lassen, nicht zweifelnd, daß schon manche mit Ungeduld die Gelegenheit erwartet haben, mit ihm etwas nähere Bekanntschaft zu machen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 89-91.
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