Siebentes Kapitel.

[144] Ist das kürzeste in diesem Buche.


Die Mutter war die erste, welche die Veränderung im Wuchse der Molly wahrnahm, und um solche vor ihren Nachbarn zu verbergen, kleidete sie ihre Tochter unbesonnenerweise in den Schlenter, den Sophie ihr geschickt hatte; obgleich das Fräulein auf Meilen[144] weit nicht daran gedacht hatte, das arme Weib würde schwach genug sein, ihn einer von ihren Töchtern in derselben Gestalt zum Tragen zu geben.

Molly war vor Freuden außer sich über die erste Gelegenheit, die sie jemals gehabt hatte, ihre Schönheit in vorteilhaftem Anputze zu zeigen. Denn, ob sie es gleich recht gut aushalten konnte, sich in ihrem Spiegel zu beschauen, als sie noch völlig in Lumpen einherging, und ob sie gleich in solcher Kleidung die Eroberung von Toms Herzen und vielleicht von noch einigen mehr gemacht hatte, so dachte sie doch, der Zusatz von besserem Putz würde ihre Reize erhöhen und ihre Eroberungen ausdehnen.

Molly also, nachdem sie sich mit diesem Schlenter, mit einer neuen Spitzenhaube und anderm Putzwerke, das ihr Tom geschenkt, bestens in Staat gesetzt hatte, wandelte mit einem Fächer in der Hand den ersten besten Sonntag den Weg zur Kirche. Die Vornehmen und Großen täuschen sich, wenn sie glauben, Hoffart und Eitelkeit sei ihr ausschließliches Eigentum. Diese edlen Eigenschaften blühen ebenso frisch und lustig in Dorfkirchen und auf deren Kirchhöfen, als in den Putzzimmern und Assembleesälen. In den Dreßkammern der Dorfkirchen sind oft solche Projekte gemacht worden, deren sich ein Kardinalskonklave schwerlich schämen dürfte. Hier finden sich ein Minister und seine Oppositionspartei, Faktionen und Kabalen, gleich denen, welche man bei Höfen findet.

Ebenso sind auch die Weiblein hier nicht weniger geübt in den höchsten Künsten ihres Geschlechts als die schönen vornehmern Damen von Stand und Vermögen. Hier gibt es Spröde und Koketten; hier gibt es Kleiderstaat und Liebäugelei, Falschheit, Neid, Bosheit, Verleumdung, kurz alles was in den glänzendsten Assembleen oder vornehmsten Gesellschaften gewöhnlich ist. Laß also die Vornehmern nur nicht länger der Unwissenheit der Geringern spotten; noch die Niedern hinfort mehr über die Laster der Höhern das Maul aufreißen!

Molly hatte sich schon eine Zeit vorher niedergesetzt, ehe noch ihre Nachbarinnen sie erkannten; und ein Geflüster lief durch die ganze andächtige Versammlung: »Wer ist sie?« Als sie aber entdeckt ward, erfolgte ein solches Naserümpfen, Lippenwerfen, Kichern und Lachen unter den Frauen und Jungfrauen, daß Herr Alwerth genötigt war, sein Ansehen anzuwenden, um leidiges Aergernis unter ihnen zu verhüten.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 144-145.
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