Zwölftes Kapitel.

[164] Enthält viel deutlichere Materien, die aber mit denen im vorigen Kapitel aus einer Quelle fließen.


Dem Leser wird es angenehm sein, glaube ich, mit mir zu Fräulein Sophie zurückzukehren. Sie brachte die Nacht, nachdem wir sie zuletzt gesehen, gar nicht angenehm hin. Der Schlaf erwies ihr wenig Freundschaft, und die Träume noch weniger. Des Morgens, als Honoria, ihre Kammerjungfer, zur gewohnten Stunde hereintrat, fand sie ihre Dame schon aufgestanden und angekleidet.

Leute, welche auf dem Lande in einer Entfernung von etlichen Meilen Feldweges zerstreut wohnen, sind als Nachbarn, Wand an Wand, zu betrachten, und die Begebenheiten eines Hauses fliegen mit unglaublicher Schnelligkeit zum andern. Jungfer Honoria hatte also die ganze Geschichte von Mollys Schimpf und Schande erfahren; welche sie, sobald sie nur einen Fuß in ihres Fräuleins Zimmer gesetzt hatte (denn ihre Zunge war gar redselig), folgendermaßen zu erzählen begann:

»Ha! Frölen, was denkt 'R Gnad'n! das Mäd'l, das 'R Gnad'n letzt Sonntags inn'r Kirch sah'n, und vor so hipsch hielt'n; obschons Sie sie auch nicht vor so hipsch möcht'n gehalt'n hab'n, wenn Sie sie näher geseh'n hätt'n. Aber, bei mein'r Ehr! sie hab'n sie für'n Richter geholt, daß sie 'n Kind hab'n soll. Mir[164] schien sie auszuseh'n, wie ein dummdreist Nickel; und mein'r Ehr! sie hat auf'n jungen Herrn Jon's ausgesagt. Und's ganze Kirchspiel sagt, Herr Alwerth ist so böse mit dem jungen Herrn Jon's, daß er'n nicht vor Augen seh'n mag. Mein'r Ehr! der junge Herr ist zu bedauern; und doch verdient 'r auch's Bedauern eben nicht, daß er sich so mit 'n Mistfinken abgeb'n konnte. Und doch ist's so'n hipscher jung'r Mensch, daß es ein'n leid thun sollt', wenn er weggejagt würde. Ich will wohl 'n entsetzlich'n Eid d'rauf thun, daß 's Mensch ebenso allart dazu gewest ist, als er; denn sie ist ihr Lebszeit ein dreist naseweise Pelmke gewest. Und wenn die Menscher so vorwill'g sind, so sind die jungen Mannsen doch auch so tad'lich eben nicht; denn, mein'r Ehr! thun sie doch nichts, als was natürlich ist. Schämen sollt'n sie sich freilich, daß sie sich mit solch'n schmutz'gen Lumpenpack gemein machen, und 's geschicht ihn'n ganz recht, wenn 's ihn'n so darnach geht. Und doch hat die Bagasche von Menschern immer die meiste Schuld. Ich wollt' mit Grund des Herzens wünschen, daß sie alle, so recht dapfer, am Pranger gestäupt würden; denn 's ist große Sünd' und Schande, daß sie so'n fein'n jung'n Mensch'n in Kreuz und Leiden bringen soll'n; und das kann doch, mein'r Ehr! niemand ableugn'n, daß Herr Jons einer d'r scharmant'sten jungen Mannsen ist, die einer nur jemals –«

Sie ließ die Klappermühle lustig fortlaufen, als Sophie, mit einer unmutigern Stimme, als sie jemals hatte hören lassen, ihr zurief: »Laß Sie es doch endlich einmal genug sein, mit all' dem Geträtsche! Ich denke, eine ist so gut wie die andre! Und es scheint mir, als ob Sie sich darüber ärgerte, daß das Glück nicht Ihr so gut gewollt hat.« »Mir, Frölen! Mir!« antwortete Jungfer Honoria. »Das sollte mir nahe geh'n, wenn 'R Gnad'n so 'ne Meinung von mir hätten. Bei mein'r Ehr! so was kann mir kein' Christenseele nachsag'n. Meinthalben könn'n alle hipsche junge Kerls in der Welt zum gläunigen Satan fahren; meinthalben! Weil ich sag', 's ist ein hipscher junger Mann! hm! Alle Leute sag'n 's ebensogut als ich. – Mein'r Ehr! ich hätt' doch nicht gedacht, 's wäre so 'n große Sünde, zu sagen, daß 'n junger Mensch hipsch ist und artig; aber, ja! bei meiner Ehr! ich will's nun selbst nicht mehr glaub'n; denn hipsch ist, wer sich hipsch aufführt. Eine Bettel-Mieke! –«

»Laß es einmal gut sein, mit deinem Geschwätz,« rief Sophie, »und siehe zu, ob mein Vater mich beim Frühstück zu sehen verlangt.«

Jungfer Honoria flog dann zum Zimmer hinaus und murmelte zwischen den Zähnen, – von welchem Gemurmel: »Seht doch! ich[165] dächt; was mir bisse! Je so geht und laßt 'r 'en Thee kochen!« alles war, was man noch so ziemlich deutlich vernehmen konnte.

Ob Jungfer Honoria den Verdacht wirklich verdiente, welchen ihre Herrschaft merken ließ, das können wir, so gern wir auch unsern Lesern zu gefallen leben, hier nicht auflösen. Dagegen wollen wir ihm zur Vergütung enthüllen, was in Sophiens Gemüt vorging.

Der Leser wird die Gefälligkeit haben, sich zu erinnern, daß sich eine geheime Neigung für Tom Jones unvermerkt in den Busen dieses jungen Frauenzimmers eingeschlichen hatte, und daß solche daselbst bis zu einer ziemlichen Höhe emporgewachsen war, ehe sie es selbst gewahr geworden. Als sie ihre ersten Anzeichen bemerkte, war ihr Gefühl dabei so süß und behaglich, daß sie nicht Entschlossenheit genug hatte, diese Regung zu unterdrücken, oder auch nur zu mäßigen; und also fuhr sie fort, eine Leidenschaft zu unterhalten, davon sie die Folgen keineswegs in Ueberlegung zog.

Diese Begebenheit mit der Molly öffnete ihr zum erstenmale die Augen; sie ward hier zuerst die Schwachheit gewahr, die sie sich hatte zu schulden kommen lassen; und ob es ihr gleich den größten Aufruhr im Gemüt anrichtete, so war doch die Wirkung davon, wie von andern widerstehenden Arzneien, und vertrieb solche auf einige Zeit die Unpäßlichkeit. Die Wirkung war in der That außerordentlich schnell, und in der kurzen Zwischenzeit, daß ihre Jungfer abwesend war, hatte das Mittel alle Symptome so völlig vertrieben, daß, als Jungfer Honoria mit dem Verlangen ihres Vaters zurückkam, sie schon völlig ruhig war und eine gänzliche Gleichgültigkeit gegen Jones gefaßt hatte.

Die Krankheiten des Gemüts gleichen fast in allen Punkten den Krankheiten des Körpers. Aus dieser Ursache hoffen wir, wird es uns jene gelehrte Fakultät, für die wir eine so tiefe Ehrerbietung hegen, verzeihen, daß wir uns genötigt gesehen haben, eine unheilige Hand an verschiedne Worte und Redensarten zu legen, welche nach allen Rechten ihr Eigentum sind und ohne welche unsre Beschreibung oft hätte unverständlich bleiben müssen.

Nun ist aber kein Umstand, in welchem die Krankheit des Gemüts eine genauere Analogie mit jenen hat, welche man körperliche nennt, als diese Neigung, welche beide zum Rückfalle haben. Dieses ist sehr auffallend bei den Seuchen des Ehr- und Geldgeizes. Ich habe es erlebt, daß der Ehrgeiz, wann er bei Hofe durch manche niedergeschlagene Hoffnung (welches die einzigen Heilmittel dagegen sind) kuriert war, wieder bei einem Rangstreit auf Landtagen oder Landgerichten aufs neue zum Ausbruch gekommen ist, und habe von einem Manne gehört, welcher den Geldgeiz insoweit überwunden hatte, daß er einen halben Gulden wegschenken konnte, der[166] sich endlich auf seinem Sterbebette darüber freute, daß er mit dem Manne, der seine einzige Tochter zur Frau hatte, einen listigen und vorteilhaften Kontrakt über seine Beerdigungskosten erschlichen hatte.

Bei den Begebenheiten der Liebe, die wir wegen genauer Gemäßheit mit der stoischen Philosophie als eine Krankheit behandeln müssen, ist diese leichte Gefahr des Rückfalls nicht weniger sichtbar. So ging es auch der armen Sophie; bei welcher gleich das nächste Mal, da sie den jungen Jones sah, die vorigen Anzeichen wiederkehrten und von der Zeit an ihr Herz abwechselnd mit Hitze und Frost angriffen.

Die Umstände dieses jungen Frauenzimmers waren jetzt sehr verschieden von dem, was sie vorher gewesen waren. Dieselbe Leidenschaft, die ihr vordem so unaussprechlich behaglich gewesen, ward jetzt zum Skorpion in ihrer Brust. Sie widerstand ihr daher aus äußersten Kräften, und bot alle Gründe auf, die ihre Vernunft (die für ihr Alter bewunderungswürdig stark war) nur an die Hand geben konnte, um sie zu unterdrücken und aus ihrem Herzen zu verbannen. Hierin glückte es ihr insofern, als sie anfing, von Zeit und Entfernung eine vollkommne Genesung zu hoffen. Sie beschloß demnach, den Tom Jones so viel als möglich zu vermeiden; zu welchem Ende sie einen Vorsatz faßte, ihre Tante zu besuchen, wozu sie ihres Vaters Einwilligung zu erhalten nicht zweifelte.

Das Glück aber, welches andre Anschläge im Schilde führte, machte dadurch einen plötzlichen Strich durch alle ihre Rechnungen, daß es einen Zufall herbeiführte, welcher im nächsten Kapitel erzählt werden soll.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 164-167.
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