Zweites Kapitel.

[294] Enthält eine Unterredung unsres Helden mit sich selbst.


Jones erhielt des Morgens früh aus Herrn Alwerths Hause seine Sachen mit folgender Antwort auf seinen Brief:


»Monsieur Jones!


Ich habe den Auftrag von meinem Herrn Onkel, Ihnen anzuzeigen, daß, so wie er zu den Maßregeln, die er in Ansehung Ihrer genommen hat, nicht ohne die größte Ueberlegung und ohne die völligste Ueberzeugung von Ihrer Unwürdigkeit geschritten ist, es auch niemals in Ihrer Gewalt stehen wird, in seinen Entschließungen die geringste Aenderung hervorzubringen. Mein Herr Onkel ist höchlich darüber verwundert, wie Sie sich erdreisten mögen zu sagen, Sie hätten alle Ansprüche auf eine junge Dame aufgegeben, auf welche Sie unmöglich jemals den geringsten Anspruch haben konnten, da ihre Geburt und ihr Reichtum solche so himmelhoch über Sie hinwegsetzt. Endlich und zuletzt hat mir mein lieber Onkel aufgetragen, Ihnen, Monsieur, zu melden, der einzige Beweis Ihres Gehorsams, den er von Ihnen gegen seine Befehle erwarte und begehre sei der, daß Sie sich, je eher je lieber, aus dieser Landesgegend entfernen.

Ich kann diesen meinen Brief nicht schließen, ohne Ihnen, Monsieur, meinen wohlmeinenden christlichen Rat angedeihen zu lassen, und zu bitten, Sie wollen ernstlich auf Buße und Besserung Ihres sündlichen Lebens bedacht sein; und, daß die vorkommende Gnade an Ihrer armen Seele nicht vergebens arbeiten möge, soll beständig der Inhalt des Gebets sein und der Fürbitte

Ihres

bereitwilligen Dieners

W.v. Blifil.«


In unsres Helden Busen empörten sich durch diesen Brief mancherlei Leidenschaften; doch behielt am Ende die Zärtlichkeit über Zorn und Aerger die Oberhand; eine Thränenflut kam ihm zu gelegnem Beistande und verhinderte nach aller Wahrscheinlichkeit, daß sein Unglück ihm nicht den Kopf verrückte oder das Herz zersprengte.

Indessen fing er sehr bald an, sich dieses Hilfsmittels zu schämen, sprang auf und sagte zu sich selbst: »Wohlan! ich will also Herrn Alwerth den einzigen Beweis geben, den er von meinem Gehorsam verlangt. Ich will mich diesen Augenblick aufmachen –[295] aber, wohin? – Nun, das laß das Glück entscheiden! Weil es niemand sonst der Mühe wert achtet, sich drum zu bekümmern, was aus diesem elenden Menschen wird, so soll es auch mir selbst ebenso gleichgültig sein. Soll ich allein auf etwas achten, was niemand in der Welt – Ha! habe ich nicht Ursache zu denken, daß noch jemand vorhanden ist? – Sie, deren Wert den Wert der ganzen Welt übertrifft! – Ja, ich darf, ich muß glauben, meiner Sophie sei es nicht gleichgültig, was für ein Schicksal mich trifft! Verlassen soll ich sie also, diese einzige Freundin? Und solch eine Freundin? Soll ich nicht bei ihr bleiben? – Aber wo? Wie kann ich das einrichten, bei ihr zu bleiben? Ist mir denn die geringste Hoffnung übrig sie nur zu sehn, auch wenn sie das ebensosehr wünschte als ich selbst, ohne sie dem Zorne ihres Vaters auszusetzen? Und wozu das? Kann ich darauf denken, ein so edles Geschöpf zu bereden, daß sie in ihren eigenen Untergang willige? Soll ich meine Leidenschaft um einen solchen Preis zu befriedigen suchen? Soll ich die Gegend umher durchschleichen wie ein Dieb, mit fast nicht besserer Absicht? – Nein, ich verachte, ich verabscheue den Gedanken. Lebe wohl, Sophie! Lebe wohl, Liebenswürdigste und Geliebteste!« – Hier schlossen die Leidenschaften den Mund und öffneten sich einen Weg durch die Augen.

Nachdem er solchergestalt den Entschluß gefaßt hatte, diese Gegend zu verlassen, begann er bei sich selbst zu überlegen, wohin er seinen Weg nehmen sollte. Die ganze Welt, wie Milton sagt, lag offen vor ihm; und Jones hatte ebensowenig, als Adam, irgend einen Menschen, an den er sich um Trost und Beistand hätte wenden können. Er hatte keine andre Bekanntschaft, als die Bekanntschaft des Herrn Alwerth, und er hatte keine Ursache sich von diesem die geringste Unterstützung zu versprechen, weil dieser Herr ihm seine Gunst völlig entzogen hatte. Männer von großem und gutem Charakter sollten wirklich sehr behutsam sein, wenn sie jemand aus ihrem Schutz und Schirm entfernen; denn die Folge für den entlassenen Unglücklichen ist, daß jedermann sich von ihm entfernt.

Was für eine Lebensart er erwählen, oder was für ein Geschäft er unternehmen sollte, war ein zweiter Punkt der Ueberlegung; und hier war alle Aussicht ebenso öde und leer. Jede Profession, selbst jeder kleine Handel erforderte Zeit und Weile, und was noch schlimmer war, Geld! Denn die Welt ist so beschaffen, daß es bei ihr heißt: aus nichts wird nichts! Ein ebenso wahrer Satz im menschlichen Leben als in der Physik; und jedermann, dem es gänzlich an Geld fehlt, ist durch diesen Mangel von allen Mitteln gänzlich ausgeschlossen, welches zu erwerben.[296]

Endlich öffnete das Weltmeer, dieser liebreiche Freund des Unglücklichen, seine langen, königlichen Arme ihn zu empfangen; und er entschloß sich augenblicklich, seine gütige Einladung anzunehmen. Um mich weniger figürlich auszudrücken, er entschloß sich zur See zu gehen.

Dieser Gedanke war ihm nicht so bald eingefallen, als er ihn eifrig festhielt, auf der Stelle Pferde mietete und sich auf den Weg nach Bristol begab, um ihn ins Werk zu setzen.

Allein bevor wir ihn auf dieser Reise begleiten, wollen wir ein wenig nach Herrn Westerns Hause zurückkehren und sehen wie es der reizenden Sophie weiter erging.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 294-297.
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