Drittes Kapitel.

[69] In welchem der Wundarzt seine zweite Aufwartung macht.


Bevor wir weiter gehen, wird es nötig sein, den Leser, welcher sich vielleicht irrigerweise einbildet, daß die Wirtin wirklich mehr gewußt habe als der Fall war, oder sich vielleicht wundert, daß sie so viel wußte, zu benachrichtigen, wie der Leutnant ihr erzählt hatte, daß der Name Sophiens Veranlassung zu dem Zanke gegeben hätte, und was das übrige ihres Wissens anbelangt, so wird der scharfsinnige Leser von selbst bemerken, wie sie in der vorhergehenden Szene dazu gelangte. In der That war ihren übrigen Tugenden eine große Portion Neugierde beigemischt, und mit Wissen und Willen litt sie nicht, daß jemand ihr Haus verließ, ohne daß sie sich vorher so viel als möglich nach seinem Namen, seiner Familie und seinen Glücksumständen erkundigt hätte.

Sie war nicht so bald fortgegangen, als Jones, anstatt über ihre Aufführung Anmerkungen zu machen, seine Gedanken damit beschäftigte, wie er in demselben Bette läge, in welchem, wie ihm gesagt worden, seine teure Sophie geschlafen hätte. Dies erregte bei ihm tausend verliebte und zärtliche Ideen, bei welchen wir uns länger aufhalten würden, wenn wir nicht bedächten, daß solche Art von Verliebten nur einen höchst unbedeutenden Teil von unsern Lesern ausmachen wird.

In dieser Gemütslage fand ihn der Wundarzt, als er kam, die Wunde zu verbinden. Da der Doktor bei seiner Untersuchung fand, daß der Puls unrichtig ging, und vernommen hatte, daß sein Patient nicht geschlafen habe, bezeugte er, daß er in großer Gefahr wäre: denn er befürchte, es sei ein Fieber im Anzuge, und diesem wolle er doch durch einen Aderlaß zuvorkommen. Darein aber wollte Jones nicht willigen, wobei er äußerte, er habe bereits Blut genug verloren; »und lieber Doktor,« sagte er, »wollen Sie nur so gütig sein und mir den Kopf verbinden, so zweifle ich nicht, ich werde in ein oder ein paar Tagen völlig gesund sein.«

»Ich wollte,« antwortete der Wundarzt, »ich könnte Sie versichern, daß Sie in einem oder ein paar Monaten hergestellt sein würden. Gesund! In der That! Nein, man wird nicht so schnell wieder gesund von solchen Kontusionen! Aber, mein Herr, ich bin viel zu alt dazu, mir meine Operation von einem Patienten vorschreiben zu lassen, und ich besteh' auf einer Revulsion, ehe ich Sie verbinde.«

Jones bestand hartnäckig auf seiner Meinung und der Doktor gab zuletzt nach, sagte ihm aber dabei, er wolle für die Folgen nicht verantwortlich sein und hoffe, er werde ihm die Gerechtigkeit widerfahren[70] lassen, zu bekennen, daß er ihm zum Gegenteile geraten habe, welches denn der Patient zu thun versprach.

Der Doktor verfügte sich hinunter in die Küche, wo er sich an die Wirtin wendete und sich sehr bitter über das widerspenstige Betragen seines Patienten beklagte, welcher nicht zur Ader lassen wolle, ob er gleich im Fieber läge.

»Das muß denn ein Freßfieber sein!« sagte die Wirtin, »denn er hat diesen Morgen ein paar geröstete Butterscheiben verschlungen, die sich sehen lassen konnten, das muß ich sagen!«

»Kann wohl sein!« sagte der Doktor. »Ich habe wohl eher Leute gesehen, die mitten im Paroxismus gegessen haben, und das läßt sich auch sehr leicht erklären, denn die acide Schärfe, welche die febrilische Materie hervorbringt, kann die Nerven des Diaphragma stimulieren und dadurch einen Heißhunger erregen, der nicht leicht von einem natürlichen Appetite zu unterscheiden ist. Aber das Aliment wird nicht konkresziert oder in den Chylum assimiliert und so korrodiert es das Orificium vasculare und verschlimmert dadurch die Symptomata febrilia. In Wahrheit, ich denke, der Herr ist in gefährlichen Umständen und ich fürchte, er kann sterben, wenn er keine Ader schlagen läßt.«

»Das müssen alle Menschen! Heute an mir, morgen an dir,« sagte die gute Frau, »also geht mich das nichts an. Ich hoffe doch nicht, Doktor, daß Sie verlangen, daß ich ihn halten soll, derweil Sie ihm zur Ader lassen. Aber hören Sie, ein Wort ins Ohr gesagt! Ehe Sie weiter gingen, möcht' ich Ihnen raten, ein bißchen zu sorgen, wer Ihr Zahlmeister sein wird.«

»Zahlmeister!« sagte der Doktor ganz stutzig. »Wie? hab' ich nicht einen hübschen Herrn unter'n Händen, hab' ich nicht?«

»Das dacht' ich ebensogut als Sie,« sagte die Wirtin; »aber wie mein Mann seliger zu sagen pflag, 's ist nicht alles Gold was gleist. Es ist ein kahler Lumpenhund, das glauben Sie mir! Unterdessen thun Sie nicht, als ob ich Ihnen über diese Sache das geringste Wörtchen gesagt hätte; aber ich meine, Leute, die sich ehrlich nähren wollen, sollten sich allemal von solchen Dingen einander freundnachbarlich Nachricht geben.«

»So! Und so hab' ich gelitten,« schrie der Doktor in vollem Eifer, »daß mir ein solcher Kerl was vorschriebe? Soll ich es anhören, daß mich jemand in meiner Kunst meistert, der mich nicht bezahlen kann? Es ist mir lieb, daß ich das noch zu rechter Zeit entdeckt habe! Ich will doch sehen, ob er Blut lassen will oder nicht?« Drauf stieg er eilig die Treppen hinauf, und indem er mit vieler Heftigkeit die Thüre des Schlafzimmers aufriß, weckte er den Jones aus seinem sehr gesunden Schlummer, in welchen er verfallen[71] war, und was noch weit schlimmer, er störte ihn in einem sehr angenehmen Traume von seiner Sophie.

»Will der Herr zur Ader lassen oder nicht?« schrie der Arzt ganz wütend. – »Ich habe Ihnen darüber meinen Entschluß bereits gesagt,« antwortete Jones, »und ich wünschte von Herzen, Sie hätten's mit meiner Antwort genug sein lassen: denn Sie haben mich aus dem süßesten Schlafe geweckt, den ich in meinem Leben gehabt habe.«

»Ja, ja!« schrie der Doktor, »mancher Mensch hat sich so aus dem Leben weggeschlafen! Schlaf ist nicht immer gut; so wenig als Essen; aber merken Sie sich's, ich frage Sie zum letztenmal, wollen Sie zur Ader lassen?« – »Und ich antworte zum letztenmal,« sagte Jones, »ich will nicht.« – »Nu, so wasch' ich über den Herrn meine Hände,« schrie der Doktor, »und ich begehre von dem Herrn, daß er mich vor meine bisher gehabte Mühe bezahle. Zwei Visiten à Stück 2 Gulden, zweimal Verband, zwei Gulden jeder ebenfalls und ein Gulden für ein Aderlaß.« – »Ich hoffe,« sagte Jones, »Sie sind nicht gesonnen, mich in diesen Umständen zu verlassen.« – »Das bin ich aber wirklich,« sagte der andre. – »Alsdann,« sagte Jones, »haben Sie sehr schlecht an mir gehandelt, und ich bezahle Ihnen keinen Heller.« – »Schon gut! schon gut!« sagte der Doktor, »der erste Verlust ist der beste!« – »Was Teufel!« meinte die Wirtin, »daß sie mich zu einem solchen Landstreicher rufen ließ?« Bei welchen Worten er aus dem Zimmer fortflog und sein Patient sich wieder auf die andre Seite kehrte und seinen Schlaf bald wieder einholte; sein Traum aber war unglücklicherweise verschwunden.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 69-72.
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