Achtes Kapitel.

[211] In welchem die Geschichte einen Krebsgang nimmt.


Ehe wir mit unsrer Geschichte um einen Schritt vorwärts gehen, wird es nicht undienlich sein, ein wenig zurückzublicken, um die außerordentliche Erscheinung zu erklären, welche Sophie und ihr Vater in dem Gasthofe zu Upton machten.

Der Leser wird so gütig sein, sich zu erinnern, daß wir in dem neunten Kapitel des siebenten Buchs unsrer Geschichte Sophien in der Lage verließen, da sie nach einem langen Kampfe zwischen Liebe und Pflicht endlich die Sache, wie es nach meiner Meinung allemal gewöhnlich ist, zu Gunsten der erstern entschied.

Dieser Kampf war, wie wir damals gezeigt haben, durch einen Besuch entstanden, den ihr kurz vorher ihr Vater in der Absicht gemacht hatte, ihre Einwilligung in die Heirat mit Herrn Blifil zu erzwingen, und welche Einwilligung nach seiner Meinung ganz deutlich in der Erklärung begriffen gewesen, daß sie keinem seiner ausdrücklichen Befehle ungehorsam sein könne oder dürfe.

Nun begab sich der Junker von diesem Besuche zu seinem Abendtrunke, überströmt von Freuden über den glücklichen Ausgang der Verrichtungen bei seiner Tochter, und weil er von sehr gefälliger Gemütsart war und gern jedermann an seiner Freude teilnehmen lassen wollte, so war der Befehl gegeben, daß das Bier in der Küche nicht sparsam fließen sollte. Solchergestalt hatte die Glocke des Abends noch nicht elfe geschlagen, als im ganzen Hause kein einziger Mensch mehr nüchtern war, ausgenommen Ihro Gnaden, Fräulein von Western und die reizende Sophie.

Des Morgens in aller Frühe ward ein Bote abgefertigt, um Herrn Blifil zu rufen: denn obgleich der Junker sich einbildete, dieser junge Herr wisse wirklich bei weitem nicht so viel von der vorherigen Abneigung seiner Tochter, als er wirklich wußte, so ward ihm dennoch, weil Blifil bis auf diese Stunde ihre Einwilligung[211] noch nicht erhalten hatte, Zeit und Weile lang, ihm diese Einwilligung bekannt zu machen, und er zweifelte gar nicht, die bestimmte Braut würde solche mit ihren eignen Lippen bestätigen. Was die Trauung betraf, so war schon den Abend vorher unter den männlichen Kontrahenten festgesetzt, daß solche auf den übermorgenden Tag gefeiert werden sollte.

Das Frühstück war jetzt in dem Besuchzimmer aufgesetzt, woselbst sich Junker Blifil einstellte, und wo auch Herr Western und seine Schwester gleichfalls versammelt waren. Und nunmehr ward auch befohlen, es dem Fräulein Sophie anzusagen.

O, Shakespeare, hätte ich deine Feder! o Hogarth, hätte ich deinen Pinsel! dann zeichnete ich das Bild des armen Lakaien, welcher mit blassem Gesicht, stieren Augen, klappernden Zähnen, stotternder Zunge und zitternden Gliedern –


(E'en such a Man, so faint, so spiritless,

So dull, so dead in Look, so woebegone,

Drew Priam's Curtain in the Dead of Night,

And would have told him, half his Troy was burn'd)


So geist- und atemlos, von Weh betäubt,

Im Blick erstorben, als der Bote dort,

Im Schau'r der Todesnacht, an Priams Bett

Erschien und sagt' ihm an: Halb Troja steh' im Brand –


ins Zimmer trat und verkündigte, Fräulein Sophie sei nicht zu finden.

»Nicht zu finden!« schrie der Junker und sprang dabei auf von seinem Stuhl. »Hagel und Wetter! All' Donner und Blitz! wo, wann, wie, was? – Nicht zu finden, wo?«

»Ei, ei, mon Frère!« sagten Ihro Gnaden, Fräulein von Western, mit wahrer ministerialischer Kälte; »Sie geraten doch auch immer um nichtsbedeutende Kleinigkeiten in die aufbrausendste Hitze. Ma Nièce ist vermutlich bloß ein wenig in den Garten spazieren gegangen. – Im Ernst, Sie sind seit einiger Zeit so ungesittet geworden, daß es einem unmöglich ist, mit Ihnen in einem Hause zu leben.«

»Nun, ja doch! Ja doch!« antwortete der Junker und kam eben so plötzlich wieder zu sich selber, als er außer sich geraten war. »Wenn's weiter nichts ist, so hat's nicht viel zu bedeuten; aber mein Seel! mir ward nicht wohl zu Mut, als der Bursche sagte, sie wär' nicht zu finden.« Er gab darauf Befehl, daß man die Glocke im Garten läuten sollte, und setzte sich ruhig wieder nieder.

Keine zwei Dinge in der Welt konnten einander so unähnlich sein und so sehr entgegenstehen, als dieser Bruder und diese Schwester[212] fast in allen Punkten, besonders aber in diesem, daß, sowie der Bruder niemals eine Sache in einiger Entfernung voraussah, aber sehr schlau eine Sache den Augenblick nachher entdecken konnte, wenn sie geschehen war; so sah die Schwester unaufhörlich in die Ferne voraus, war aber bei weitem nicht so scharfsichtig über Gegenstände, die ihr vor den Augen lagen. Von diesen beiden Eigenschaften wird der Leser Beispiele bemerkt haben, und in der That gingen diese ihre beiden verschiedenen Talente bis zum Uebermaß; denn sowie die Schwester sehr oft Dinge voraussah, welche niemals zur Wirklichkeit gelangten, so sah der Bruder auch oft weit mehr als sich wirklich wahr befand.

Uebrigens war das jetzt hier nicht der Fall. Aus dem Garten ward eben die Nachricht gebracht, welche vorher aus ihrer Kammer gebracht worden: Fräulein Sophie sei nicht zu finden.

Nunmehr machte sich der Junker selbst hinaus und begann den Namen Sophie so laut und mit ebenso roher Kehle zu brüllen, als vor Zeiten Herkules den Namen Hylas brüllte; und wie nach der Sage des Dichters das ganze weite Ufer den Namen des schönen Jünglings widerhallte, so erschollen Haus, Garten und alle benachbarten Felder von nichts als von dem Namen Sophie, in den rohen tiefen Stimmen der Männer und in dem feinen hohen Gekreische der Weiber und Mädchen, und die schöne Nymphe Echo schien mit solchem Entzücken diesen geliebten Namen nachzusprechen, daß, wenn es wirklich eine solche Nymphe gibt, Ovid, wie ich glaube, ihrem Geschlechte viel zu nahe gethan hat.

Eine lange Zeit hindurch herrschte nichts als Verwirrung, bis endlich der Junker, nachdem er Atem genug daran verschwendet hatte, wieder in das Besuchzimmer kam, woselbst er Ihro Gnaden, Fräulein von Western, und den Junker Blifil noch vorfand und sich mit höchst kläglichem Gesichte in seinen Großvaterstuhl warf. Hier begann Ihro Gnaden, Fräulein von Western, ihm folgende Trostrede zu halten:

»Mon Frère, ich bin herzlich bekümmert über das, was sich zugetragen hat, und daß ma Nièce eine Aufführung angenommen, welche für unsre Familie so höchst unschicklich ist; aber mon Frère, es ist alles Ihr eignes Werk, und daher haben Sie keinem Menschen dafür zu danken, als Sich selbst. Sie wissen, sie ist immer auf eine Art erzogen worden, welche gerade das Gegenteil war von dem, was ich beständig anriet, und da sehen Sie nunmehr die Folgen. Hab' ich nicht mehr als tausendmal sehr gründlich mit Ihnen darüber gesprochen, weil Sie meiner Nièce ihren eignen Willen ließen? Aber Sie wissen, niemals habe ich etwas bei Ihnen ausrichten können, und als ich mir endlich alle Mühe gegeben hatte, den hartnäckigen[213] Eigensinn bei ihr auszurotten und Ihre Irrtümer und Thorheiten wieder ins reine zu bringen, da ward sie, Sie wissen es, mir aus den Händen genommen, und also hab' ich jetzt weiter nichts zu verantworten. Hätte man mir die uneingeschränkte Sorgfalt für ihre Erziehung anvertraut, so wären Ihnen solche Zufälle, wie dieser, niemals zugestoßen. Jetzund müssen Sie sich damit trösten, daß es alles Ihr eignes Werk ist, und in der That, was konnte man wohl anders von solcher Verzärtelung erwarten?« – »Der Hagel! Schwester,« antwortete er, »du sollt'st ein'n wirklich toll machen. Hab' ich sie verzärtelt? Hab' ich'r ihren Willen gelassen? – Hab' ich sie nich noch gester abend gedroht, wenn sie m'r ungehorsam wäre, wollt' ich s'e uf ihre Kammer verschließen bei Wasser und Brot, solange sie lebte? hab' ich nicht? – Hiobsgeduld muß m'r bei dir haben, und doch langt sie nicht zu, wenn du ein'm deinen Trost zusprichst.«

»Hat jemals eine sterbliche Seele dergleichen gesehen!« erwiderte sie. »Mon Frère! wenn ich nicht fünfzigmal so viel Geduld hätte, als der weise Hiob, so würden Sie mich dahin bringen, alle Decence und alles Decorum zu vergessen. Warum mußten Sie sich in die Sache mischen? Hab' ich Sie nicht ersucht, hab' ich Sie nicht ordentlich gebeten, die Ausführung der ganzen Sache mir zu überlassen? Alle Operationen von einer ganzen Kompanie haben Sie durch einen falschen Schritt über'n Haufen geworfen. Würde wohl ein Mann bei gesunder Vernunft durch Drohungen wie diese eine Tochter erschreckt und erbittert haben? Wie oft hab' ich's Ihnen gesagt, mon Frère, daß das Frauenzimmer in dem gesitteten freien Europa sich nicht behandeln läßt, wie karkassische1 Sklavinnen. Wir stehen unter dem Schutz der Gesetze und der Sitten. Uns kann man bloß durch Sanftmut und Güte gewinnen; wir lassen uns durch keine Drohungen und Schrecken und Poltern ins Bockshorn jagen. Dem Himmel sei Dank, daß das salische Gesetz nur in Frankreich Mode ist! Mon Frère, Ihre Sitten sind so rauh, daß es kein Frauenzimmer außer mir mit Ihnen aushalten könnte. 's nimmt mich nicht wunder, daß ma Nièce sich durch Schrecken und Angst dahin hat bringen lassen, diesen Schritt zu thun. Und mit aller Offenherzigkeit zu sagen, glaub' ich, ma Nièce wird für das, was sie gethan hat, bei der Welt vollkommene Rechtfertigung finden. Ich sag' es Ihnen abermal und abermal, mon Frère, Sie müssen sich damit trösten, daß Sie bedenken, es sei alles bloß Ihr eigner Fehler. Wie oft hab' ich Ihnen nicht den Rat gegeben –« Hier sprang[214] Western hastig auf aus seinem Stuhl, erleichterte sein Herz durch drei abscheuliche Verwünschungen und rannte zum Zimmer hinaus.

Als er fortgegangen war, ließ sich seine Schwester womöglich mit noch mehr Bitterkeit, als sie in seiner Gegenwart gethan hatte, wider ihn vernehmen, und berief sich auf Herrn Blifil, als Richter der Wahrheit dessen was sie sagte, welcher mit der größten Gefälligkeit jeder ihrer geäußerten Meinungen Beifall gab, dabei jedoch alle die Fehltritte des Herrn Western entschuldigte, »weil man bedenken müßte,« sagte er, »daß sie aus einer übertriebenen väterlichen Zärtlichkeit entsprungen wären, welches doch am Ende immer den Namen einer sehr liebenswürdigen Schwachheit verdiente.« – »Um so weniger ist es zu entschuldigen,« antwortete die Dame. »Denn wen richt't er durch seine Zärtlichkeit anders zu Grunde als sein eignes Kind?« Welcher Aeußerung Herr Blifil ohne Umstände Beifall gab. Ihro Gnaden, Fräulein von Western, beliebten nun auch zu äußern, wie sie in Ansehung des Herrn Blifil äußerst beschämt wären über die Behandlung, welche ihm von einer Familie widerfahren, der er eine so große Ehre zu erweisen gesinnt gewesen. In dieser Rücksicht sprach sie von der Thorheit ihrer Nièce mit großer Strenge, am Schluß aber warf sie die ganze Schuld auf ihren Bruder, der, wie sie sagte, nicht zu entschuldigen stände, daß er sich soweit eingelassen, ohne vorher seiner Tochter Einwilligung gewisser zu sein. »Aber,« fuhr sie fort, »seine Gemütsart ist von jeher immer so heftig und unbändig gewesen, und ich kann mir's kaum selbst verzeihen, daß ich so manchen guten Rat bei ihm verschwendet habe.«

Nach einer viel längeren Unterredung von dieser Natur, welche vermutlich den Leser eben nicht sonderlich belustigen würde, wenn wir hier solche wörtlich anführen wollten, nahm Herr Blifil seinen Abschied und ging, nicht eben gar zu vergnügt über seine fehlgeschlagene Erwartung, nach Hause; jedoch halfen ihm die Philosophie, welche er vom Herrn Quadrat erlernt, und die Religion, welche Herr Schwöger ihm eingeflößt hatte, zusammengenommen mit noch etwas andrem, dieses Unglück weit besser ertragen, als heftigere Liebhaber diese Arten von Uebel zu ertragen pflegen.

Fußnoten

1 Vielleicht meint sie Cirkassische.


Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 211-215.
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