Zehntes Kapitel.

[79] Zwar kurz, kann aber dennoch wohl nasse Augen machen.


Herr Jones war eben angekleidet, um zu seiner Dame zu gehen, als Madame Miller an seine Thür klopfte, und als sie eingelassen war, sehr dringend bat, er möchte herunterkommen und Thee mit ihr trinken.

Bei seinem Eintritt ins Zimmer stellte sie ihm gleich einen Fremden vor und sagte: »Dieses, Herr Jones, ist mein Vetter, der Ihrer Gütigkeit so sehr viel zu verdanken hat, und er bittet um die Erlaubnis, Ihnen seinen aufrichtigsten Dank selbst sagen zu dürfen.«

Der Mann hatte kaum die Rede begonnen, welche Madame Miller so höflich eingeleitet hatte, als beide, Jones und er, einander mit unverwandten Augen betrachteten und dabei auf einmal Zeichen des äußersten Erstaunens blicken ließen. Die Stimme des letztern fing augenblicklich an zu beben und anstatt seine Rede zu Ende zu bringen, sank er auf einen Stuhl nieder und rief aus: »Es ist gewiß so! Ich bin gewiß, es ist so!«

»Himmel! was bedeutet das?« rief Madame Miller; »Ihnen wird doch nicht übel, Vetter, hoff' ich? Bringt Wasser, ein Glas gebranntes Wasser, geschwind, geschwind!«

»Seien Sie nicht beängstigt, Madame,« sagte Jones. »Ich bin einer Herzstärkung fast ebenso benöthigt, als Ihr Vetter. Wir sind beide über diese unerwartete Begegnung gleich erstaunt. Ihr Vetter, Madame Miller, ist ein Bekannter von mir.«

»Ein Bekannter!« schrie der Mann – »gütiger Gott!« »Ja freilich, ein Bekannter,« wiederholte Herr Jones, »und ein sehr hochgeschätzter Bekannter dazu. Wenn ich den Mann nicht liebe und hochschätze, der alles auf die Wage setzen kann, um seine Frau und Kinder vom Verderben zu retten, so möge mir der Himmel einen Freund geben, der fähig ist mich in Not und Unglück zu verleugnen!«

»O, Sie sind ein vortrefflicher junger Mann!« rief Madame Miller. – »Ja in der That, der arme Mann! Er hat alles gewagt. Wenn er nicht eine der besten Gesundheiten gehabt hätte, er hätte drauf gehn müssen.«

»Liebe Kousine,« rief der Mann, der sich jetzt so ziemlich erholt hatte, »dies ist der Engel vom Himmel, von dem ich Ihnen sagte. Dieser ist es, dem ich, eh ich Sie sah, die Erhaltung meiner Meta zu verdanken hatte. Er ist es, dessen Großmut ich jede Bequemlichkeit, jede Stärkung, die ich ihr verschaffte, schuldig bin. Er ist wahrhaftig der würdigste, der bravste, der edelste Mann unter allen[80] Sterblichen. O, liebe Kousine, diesem Herrn habe ich solche große Verbindlichkeiten von solch einer Art –«

»Sagen Sie nichts von Verbindlichkeiten,« fiel ihm Jones schnell in die Rede; »kein Wort davon, bitte ich ein- für allemal, kein Wort!« Er meinte, glaub' ich, ihm hiermit zu verbieten, daß er von der Sache des Straßenraubes gegen irgend einen Menschen etwas verrate. – »Wenn ich durch die Kleinigkeit, die Sie von mir empfangen, eine ganze Familie erhalten habe, so ist gewiß noch keine Freude so wohlfeil erkauft.«

»O, mein Herr!« sagte der Mann, »ich wünschte, Sie könnten diesen Augenblick mein Haus sehen. Wenn jemals ein Mensch zu den Freuden ein Recht gehabt hat, deren Sie erwähnen, so bin ich überzeugt, sind Sie es selbst. Meine Kousine sagt mir, sie habe Ihnen das Elend erzählt, in welchem sie uns fand. Dies, mein teuerster Herr, ist größtenteils gehoben, und hauptsächlich durch Ihre Güte. Meine Kinder haben nun ein Bett, worauf sie liegen – und sie haben – sie haben – ewiger Segen Gottes lohne Sie dafür! – sie haben Brot zu essen. Mein kleiner Junge ist wieder besser; meine Frau ist außer Gefahr, und ich bin froh und glücklich! Alles, alles ist Ihr Werk, Herr, und meine Kousine hier eine der edelsten, besten Frauen! In der That, Herr, ich muß Sie in meinem Hause sehen. In der That, meine Frau muß Sie sehen und Ihnen danken. Auch meine Kinder müssen Ihnen ihren Dank sagen. In der That, Herr, den Kindern fehlt's nicht am Gefühl ihrer Verbindlichkeit. Aber wie steigt meine Empfindung, wenn ich bedenke, wem ich's zu verdanken habe, daß sie jetzt fähig sind ihre Dankbarkeit auszudrücken. O, Herr, die kleinen Herzen, die Sie erwärmt haben, ohne Ihren Beistand wären sie jetzt kalt gewesen wie Eis.«

Hier versuchte es Jones, den armen Mann zu verhindern, daß er etwas weiter sage; aber die Ergießungen seines eignen Herzens würden wirklich von selbst seine Worte erstickt haben. Und nun fing Madame Miller gleichfalls an in Danksagungen auszubrechen, sowohl in ihrem eignen als in ihres Vetters Namen, und beschloß damit, daß sie sagte, sie zweifle nicht, eine solche Güte des Herzens würde einen herrlichen Lohn empfahen.

Jones antwortete, er sei bereits überflüssig belohnt. »Ihres Vetters Erzählung, Madame,« sagte er, »hat mir weit angenehmere Empfindungen verursacht, als ich jemals gekannt habe. Welch ein elender Mensch müßte das sein, der eine solche Geschichte ohne Rührung anhören könnte! Wie entzückend muß also der Gedanke sein, in solch einer Szene eine glückliche Rolle gespielt zu haben! Wenn es Menschen gibt, welche die Freude nicht fühlen können, die darin[81] liegt, andre froh zu machen, so bedaure ich sie von Herzen, weil sie unfähig sind, an demjenigen Geschmack zu finden, was nach meiner Meinung eine größre Ehre, ein höherer Vorteil und ein süßeres Vergnügen ist, als dem Ehrgeizigen, dem Geldsüchtigen oder dem Wollüstigen jemals zu teil werden kann.«

Da nunmehr die Stunde der Zusammenkunft herangenaht war, sah Herr Jones sich genötigt, eilig Abschied zu nehmen, doch schüttelte er vorher erst seinem Freund recht herzlich die Hand und bat, ihn so bald als möglich wieder zu sehen, wobei er ihm versprach, daß er die erste beste Gelegenheit wahrnehme wolle, ihn in seinem eignen Hause zu besuchen. Hierauf stieg er in seinen Wagen und fuhr nach dem Hause der Bellaston voller Freuden über das Glück, welches er über diese arme Familie verbreitet hatte. Dabei konnte er auch nicht umhin, mit Schaudern an die schrecklichen Folgen zu denken, welche daraus hätten entstehen müssen, wenn er mehr auf die Stimme der strengen Gerechtigkeit, als auf die Stimme der Güte und Milde gehört hätte, als er auf der Heerstraße angefallen wurde.

Den ganzen Abend hindurch sang Madame Miller das Lob des Herrn Jones, wobei der ehrliche Anderson, so lange er blieb, sie so eifrig begleitete, daß er oft schon das Wort auf der Zunge hatte, um die Geschichte mit dem Straßenraube zu erzählen. Inzwischen besann er sich noch glücklicherweise und vermied eine Unbesonnenheit, die um so größer gewesen sein würde, da er wußte, daß Madame Miller in ihren moralischen Grundsätzen äußerst streng und gewissenhaft war. Gleichfalls wußte er recht gut, daß seine Kousine zuweilen etwas gesprächig wäre, und doch war er bei alledem so voller Dankbarkeit, daß solche beinahe seine Behutsamkeit und Furcht vor Schande überwältigt und ihn dasjenige lieber öffentlich hätte bekannt machen lassen, was seinen eignen guten Namen geschändet hatte, als daß er einen einzigen Umstand hätte verschweigen sollen, welcher seinem Wohlthäter die vollkommenste Ehre bringen mußte.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 79-82.
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