Erstes Kapitel.

[129] Zu kurz um einer Anzeige zu bedürfen.


Es gibt eine Klasse von theologischen, oder vielmehr moralischen Schriftstellern, welche lehren, die Tugend sei der sichre Weg zur Glückseligkeit in dieser Welt, sowie das Laster der sichre Weg zum Verderben. Eine sehr heilsame und trostvolle Lehre, gegen die wir nur die einzige Einwendung haben, daß sie nicht wahr ist.

Ja, wenn diese Schriftsteller unter Tugend die Ausübung jener[129] Kardinaltugenden meinen, welche, gleich den guten Hausmüttern, fein zu Hause bleiben und sich um weiter nichts als um ihr eignes Hauswesen bekümmern, so will ich ihnen den Punkt ganz gerne zugeben, denn diese tragen alle so gewiß und sicher zur Glückseligkeit bei, daß ich beinahe wünschen möchte, was auch dadurch den alten und neuen Weisen für Gewalt geschähe, man legte ihnen anstatt des Namens Tugend den Namen Weisheit bei. Denn in Rücksicht auf dieses Leben war, nach meinen Begriffen, kein System weiser, als das System der alten Epikuräer, welche das höchste Gut in die Weisheit setzten; keins aber närrischer, als das System ihrer Gegenfüßler, der neuen Epikuräer, welche das höchste Glück in reichlicher Befriedigung jeder sinnlichen Begierde suchen.

Meint man aber unter Tugend (wie ich fast glauben muß) eine gewisse relative Eigenschaft, welche beständig außer dem Hause wirksam ist und ebenso innig bedacht zu sein scheint, das Glück andrer zu befördern, als andre ihr eignes, so kann ich nicht so leicht zustimmen, daß das der sicherste Weg zur Glückseligkeit eines Menschen sei; weil ich besorge, wir müßten alsdann Armut und Verachtung, nebst allem Unheile, was hämische Nachreden, Neid und Undankbarkeit den Menschen zuziehen, mit in unsern Begriff von Glückseligkeit einschließen, ja zuweilen genötigt sein, besagte Glückseligkeit nach einem Kerker zu begleiten, weil manche sich durch die vorgenannten Tugenden bis soweit gebracht haben.

Ich habe jetzt eben nicht Zeit, mich in ein so geräumiges Feld von Spekulation einzulassen, als sich mir hier zu öffnen scheint. Meine Absicht war, einen Lehrsatz wegzuschieben, der mir im Wege lag, weil unterdessen, daß Herr Jones auf dem allertugendhaftesten Wege wandelte, der sich nur denken läßt, indem er dran arbeitete, seine Nebenmenschen vom Verderben zu retten, der Satan oder sonst ein böser Geist, vielleicht einer in menschliches Fleisch und Blut gekleidet, aus allen Kräften daran arbeitete, ihn durch Sophiens Fall völlig elend zu machen.

Dies würde also eine Ausnahme von der obigen Regel zu sein scheinen, wenn es wirklich eine Regel wäre. Da wir aber auf unsrer Reise durch's Leben davon so viele Ausnahmen gesehen haben, so wollen wir lieber den Lehrsatz bestreiten, auf welchen sie sich gründet, welchen wir nicht für christlich halten, welcher nach unsrer Ueberzeugung nicht wahr ist und welcher wirklich einen der schönsten Gründe über den Haufen wirft, den die bloße Vernunft für den Glauben an die Unsterblichkeit an die Hand geben kann.

Jedoch da die Neugierde des Lesers (wenn er nur ein wenig davon hat) jetzt wach und hungrig sein muß, so wollen wir so bald als möglich dafür sorgen, sie zu füttern.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 129-130.
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