Sechstes Kapitel.

[146] Auf was Weise der Junker dazu kam, den Aufenthalt seiner Tochter zu entdecken.


Obgleich in manchen Geschichten der Leser viel unerklärbarere Erscheinungen verdauen muß, als die Erscheinung des Junkers Western, ohne darüber einige Genüge zu erhalten, so wollen doch wir, die wir ihm außerordentlich gerne Gefälligkeiten erzeigen mögen, wenn es nur irgend in unsrer Macht steht, jetzt dazu schreiten, ihm die Mittel und Wege zu zeigen, wodurch der Junker erfuhr, wo seine Tochter wäre.

Also: In dem dritten Kapitel des vorigen Buches ließen wir[146] uns ein Wort davon entfallen (denn es ist nicht unsere Gewohnheit, zu welcher Zeit es wolle, den Vorhang weiter aufzuziehen, als eben zum Zwecke nötig ist), daß Madame Fitz Patrick, welche ein herzliches Verlangen trug, sich wieder mit ihrem Onkel und ihrer Tante von Western auszusöhnen, meinte, sie hätte dazu wahrscheinlich eine bequeme Gelegenheit, wenn sie behilflich wäre, Sophien an der Begehung desselbigen Verbrechens zu hindern, wodurch sie sich den Zorn ihrer Familie zugezogen hatte. Nach vielem Hin- und Hersinnen also faßte sie den Entschluß, ihrer Tante Western Nachricht von dem Aufenthalt ihrer Kousine zu geben. Demzufolge schrieb sie ihr folgenden Brief, welchen wir aus mehr als einer Ursache dem Leser der Länge nach zum besten geben wollen.


»Hochgeehrteste Fräulein Tante!


Die Veranlassung meines Schreibens wird vielleicht machen, daß meiner teuersten Tante dieser Brief nicht unangenehm ist, wenigstens wegen einer von Ihren Niecen, ob ich gleich keine große Ursache habe, zu hoffen, er werde Ihnen auch der andern wegen lieb sein.

Ohne weitere Entschuldigungen anzuführen, als ich auf dem Wege war, meine unglückliche Person zu Ihro Gnaden Füßen zu legen, traf ich, durch den seltsamsten Zufall von der Welt, mit meiner Kousine Sophie zusammen, mit deren Geschichte Sie besser bekannt sind, als ich selbst, ob ich zwar unendlich viel zu viel weiß; wenigstens genug, um mich zu überzeugen, daß sie in Gefahr steht, in eben dasselbe Unglück zu rennen, welches ich leider dadurch über mich gezogen habe, daß ich höchst thörichter und dummerweise Ihrem höchst weisen und klugen Rat nicht gefolgt bin.

Kurz ich habe den Mann gesehen, ja ich habe gestern den ganzen Tag in seiner Gesellschaft zugebracht, und es ist ein sehr scharmanter junger Mensch, das kann ich Ihro Gnaden versichern. Durch was für einen Zufall er mit mir bekannt geworden, das ist zu langweilig, meiner gnädigen Tante hier zu erzählen; aber ich habe heute morgen meine Wohnung verändert, um ihn zu vermeiden, damit er nicht durch mich auf die Entdeckung meiner Kousine gerate, denn noch weiß er nicht, wo sie ist, und es ist auch ratsam, daß er es nicht eher erfahre, bis mein Onkel sie in Sicherheit gebracht hat. Es ist also keine Zeit zu versäumen und ich habe bloß nötig, Ihnen zu sagen, daß Sie jetzt bei der Kousine Bellaston ist, welcher ich meinen Besuch gemacht und gefunden habe, daß sie willens ist, meine Kousine Western vor ihrer Familie zu verbergen. Meine teuerste gnädige Tante wissen, daß es eine ganz sonderbare Frau ist. Aber nichts würde mich schlechter kleiden, als wenn ich einer Person von Ihrem großen Verstande und großer Weltkenntnis etwas sagen wollte, das einem guten Rate nur von ferne ähnlich sähe: ich begnüge mich also, Ihnen bloß zu sagen, wie die Sache steht.

Ich hoffe, meine teuerste Tante, daß die Sorge, welche ich bei dieser Gelegenheit für das Beste meiner Familie bewiesen habe, mich von neuem der Gunst einer gütigen Anverwandten empfehlen[147] werde, welche beständig so vielen Eifer für die Ehre und das wahre Beste unser aller bezeigt hat, und daß es ein Mittel sein möge, mir Ihre gnädige Freundschaft wieder zu erwerben, welche einen so großen Teil meiner vorigen Glückseligkeit ausmachte, und für meine zukünftige so unentbehrlich ist. Ich bin mit der vollkommensten Verehrung, gnädigste Fräulein Tante,

Ihre pflichtschuldigste Niece und gehorsamste

demütigste Dienerin

Henriette Fitz Patrick


Tante Western war jetzt in ihres Bruders Hause, woselbst sie sich beständig aufgehalten hatte, um dem armen Junker in seiner Betrübnis Trost zuzusprechen. Von diesem Troste, welchen sie ihm in täglichen Gaben zuteilte, haben wir bereits eine Probe gegeben.

Sie stand jetzt mit ihrem Rücken gegen das Feuer gekehrt, hielt eine Prise Schnupftabak in der Hand und teilte dem Junker diese tägliche Spende an Trost aus, unterdessen er dabei seine Nachmittagspfeife rauchte, als sie den vorstehenden Brief empfing. Sie hatte ihn kaum durchgelesen, als sie solchen ihm hinreichte und dabei sagte: »Da, mon Frère, da ist eine Nachricht von Ihrem verlornen Schäflein. Das Glück hat es Ihnen noch einmal wiedergegeben, und wenn Sie sich von meinem Rate führen und leiten lassen wollen, so ist es möglich, daß Sie es behalten.«

Sobald der Junker den Brief durchgelesen hatte, sprang er auf von seinem Stuhle, warf seine Pfeife ins Feuer und schrie vor Freuden ein lautes Juchhe! Darauf schellte er die Bedienten zusammen, ließ sich seine Stiefel bringen, befahl den Chevalier und einige andere Pferde zu satteln, und sogleich den Pfarrer Schickelmann zu holen. Nachdem er alles dies gethan, ging er auf seine Schwester zu, faßte sie in seine Arme und gab ihr einen derben Schmatz, wobei er sagte: »Hagel! D' siehst ja nicht freundlich aus! Einer sollt' mein'n, es thät' Dir leid, daß ich's Mädchen gefund'n habe.«

»Mon Frère,« antwortete sie, »die tiefsten Politiker, welche auf den Grund der Sachen sehen, entdecken oft einen ganz verschiedenen Aspekt der Affairen, als derjenige ist, welcher auf der Oberfläche schwimmt. Es ist freilich wohl wahr, die Sachen sehen weit weniger gefährlich aus, als sie ehmals in Holland aussahen, als Ludwig der Vierzehnte mit seiner Armee vor den Thoren von Amsterdam stand. Aber es ist bei dieser Sache eine solche Delikatesse erforderlich, von der ich, mon Frère wird mir's verzeihen, fürchte, daß sie Ihnen ermangelt. Bei einer Dame von hoher Figur, wie unsre Kousine von Bellaston, muß man ein gewisses Dekorum beobachten, mon Frère, wozu eine größere Weltkenntnis nötig ist, als Sie, wie ich fürchte, besitzen.«

»Ma Soeur,« schrie der Junker, »'ch weiß, du hast eine winz'ge Meinung von meinem Verstand! Aber bei dieser Kehr will 'ch 'nmal zeigen, wer d'r Narr ist. Kenntnis! seht doch! Ich habe nicht so lang im Lande gelebt ohne Kenntnis von Haftsbefehlen und 'n[148] Landsgesetzen! Ich weiß, ich kann das Mein'ge allenthalb'n nehm'n, wo ich's finde. Zeig' mir nur mein' Tochter, wo s' ist, und wenn 'ch denn nicht weiß, wie ich s'e kriegen soll, so geb' ich dir Urlaub, mich 'n Dummbart zu nenn'n, so lang' ich lebe. 'S gibt ebensogut Friedensrichter in London, als in andern Orten.«

»Ma foi,« schrie die Schwester, »Sie machen, daß ich vor dem Ausgang dieser Sache zittre, die Sie, wenn Sie nach meinem Rat verfahren, zu einem glücklichen Ende bringen können. Meinen Sie denn wirklich, mon Frère, daß man in das Haus einer Dame von Stande und Ansehen mit Verhaftsbefehlen und brutalen Friedensrichtern einfallen kann? Ich will Sie unterrichten, wie Sie prozedieren müssen: Sobald Sie in der Stadt angelangt sind und dezente Kleider angeschafft haben (denn in der That, mon Frère, jetzt haben Sie keine, in welchen Sie erscheinen könnten,) so müssen Sie der Frau von Bellaston Ihre Empfehlung sagen und um die Erlaubniß bitten lassen, Ihre ergebenste Aufwartung machen zu dürfen. Wenn Sie dann in ihre Gegenwart vorgelassen werden, wie gewiß geschehen wird, und ihr Ihre Geschichte erzählt haben und den gehörigen Gebrauch von meinem Namen gemacht haben (denn ich glaube, Ihr kennet Euch beide kaum von Ansehen, ob Ihr gleich Blutsfreunde seid,) so glaube ich zuversichtlich, wird sie meiner Niece ihre Protektion entziehen, die ihr gewiß etwas falsches vorgespiegelt hat. Dies ist die einzige Methode. – Friedensrichter! man sehe doch! warum nicht gar Freizettel! Bilden Sie sich ein, daß man in einer zivilisierten Nation ein solches Verfahren gegen eine Dame von Stande und Ansehen unternehmen könne?«

»Hol der Beelzebub ihr Ansehn!« schrie der Junker. »Eine saubre zivilisierte Nation, wahrlich, wo die Weiber über die Gesetze weg sind! Und w'rum soll ich da stehn und passen und e'n'n Schlör von Komplimenten schicken an 'ne verdammte Hure, die ihr'n eigentlich'n natürlich'n Vater sein' Tochter vorenthält. Ich sag' dir, ma Soeur, ich bin nicht so unwissend, als du meinst. – Weiß wohl, du möcht'st gern behaupten, daß d' Weiber über d' Gesetze weg wären; aber 's ist 'ne reine Lügen. Ich hab's vom Oberrichter beim Landgericht selbst gehört, daß kein Mensch in der Welt ist, der nicht unter'n Gesetzen steht. Aber das muß wohl so was von euren ausländischen Gesetzen sein, glaub' ich, die mit der neuen Regierung eingeschwärzt sind.«

»Herr von Western, ich glaube,« sagte sie, »Sie nehmen von Tag zu Tag an Unwissenheit zu. – In Wahrheit, Sie sind ein völliger Bär geworden.«

»Ebensowenig 'n Bär, als du selbst, Schwester Western,« sagte der Junker. »Der Blix! da sprecht 'r 'n langes und breites von Eur'r Höflichkeit und wenns zum Klappen kömmt, mein Seel! da habt Ihr selbst vor kein'n Dreier. Ich bin kein Bär! Ne! bin auch kein Hund; aber 'ch kenne jemand, die so was ist, was mit 'n B – anfängt; aber der Blix, ich will Euch zeigen, daß ich besser zu leben weiß, als gewisse Leute.«

»Monsieur Western,« antwortete die Dame, »Sie haben Freiheit[149] zu sagen, was Sie wollen. Je vous méprise de tout mon coeur! Ich werde mich also darüber nicht ärgern. – Ueberdem, wie meine Kousine mit dem häßlichen irländischen Namen gar richtig sagt, ich habe so viele Rücksicht auf die Ehre und das wahre Beste meiner Familie und nehme so vielen Anteil an meiner Niece, welche mit dazu gehört, daß ich beschlossen habe, bei dieser Gelegenheit selbst nach der Stadt zu fahren. Denn in der That, in der That, mon Frère. Sie sind nicht der gewiegte Minister, den man bei einem polierten Hofe anstellen kann – Grönland – Grönland sollte allemal der Schauplatz der tramontanischen Negoziation sein.«

»Himmel sei Dank,« rief der Junker, »daß ich nicht versteh was d' da sagst. Bist wieder in dein ausländ'sch Rotwelsch geraten. Doch sollst sehn, daß 'ch viel zu großmütig bin, dir an Höflichkeit was nachzu geb'n, und weil du nicht bös drüber bist, was ich gesagt habe, so bin ich auch nicht bös drüber, was du gesagt hast. Vorwahr, 'ch hab's immer für 'ne Narrheit gehalten, wenn Verwandte sich kritteln, und wenn s'e sich dann und wann 'nmal ein hastig Wort geb'n, je nu! wer austeilt muß wieder einnehm'n! Meinsteils, ich kann nicht maul'n und nehm's für lieb und gut von dir, daß du selbst nach Londen gehn willst; denn ich bin 'r mein Lebstage nur zweimal gewesen und jederzeit nur so 'n vierzehn Tage, und da kann man freilich nicht von m'r erwarten, daß 'ch in so kurzer Zeit viel von d'n Straßen und d'n Leuten kann kennen gelernt haben. Ich hab's niemals geleugnet, daß du von solchen Dingen mehr weißt als ich. Wenn 'ch dir das absputieren wollte, das wär' eben so viel, als wenn du mir absputieren wolltst, daß ich nicht mein Kuppel Hunde zu führen wüßte, oder 'n Hasen im Nest zu finden.« – »Das versichr' ich Sie, mon Frère, werd' ich mir niemals einfallen lassen.« – »Nu gut!« erwiederte er, »und ich geb' dir beide Händ' drauf, ich will dir auch das andre nimmer absputieren.«

Hier wurden also, um der Dame eine Redensart abzuborgen, Präliminarien gewechselt unter den streitigen Parteien, und da nunmehr der Pfarrer anlangte und die Pferde fertig waren, so machte sich der Junker auf den Weg, nachdem er ihr versprochen hatte, ihren Rat vor Augen zu haben, und sie schickte sich dagegen an, ihm den nächsten Tag nachzufolgen.

Nachdem er aber unterwegs dem Pfarrer diese Sachen mitgeteilt hatte, wurden sie beide darüber einig, daß man der vorgeschriebnen Formalitäten gar wohl überhoben sein könnte, und da also der Junker andern Sinnes geworden war, so verfuhr er auf diejenige Art, wie wir bereits gesehen haben.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 146-150.
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