Sechstes Kapitel.

[195] In welchem die Geschichte genötigt ist, hinter sich zu sehen.


Dem besten Vater ist es fast unmöglich, eine genaue Unparteilichkeit unter seinen Kindern zu beobachten, selbst auch dann nicht, wenn keine hervorragenden Verdienste einen Unterschied in seiner Liebe verursachen; aber wirklich kann man es auch einem Vater kaum übel nehmen, wenn ein solcher Vorzug an Verdienst seine Vorliebe bestimmt.

Da ich alle verschiednen Personen in dieser Geschichte als meine Kinder betrachte, so muß ich auch bekennen, daß ich eben eine solche Vorliebe für meine Sophie habe, und dafür hoffe ich wird mir der Leser auch ebendieselbe Entschuldigung zu statten kommen lassen, nämlich den großen Vorzug ihres Charakters.

Diese außerordentliche Zärtlichkeit, die ich nun einmal für meine Heldin habe, erlaubt mir's niemals, sie etwas lange ohne meinen größten Widerwillen aus den Augen zu lassen. Deshalb möchte ich jetzt gern zurückkehren und begierig nachfragen, wie es dem lieben Kinde geht, seitdem sie nicht mehr bei ihrem Vater im Hause ist, wenn ich nicht genötigt wäre, vorher erst beim Herrn Blifil einen kurzen Besuch zu machen.

Herr Western hatte in der ersten Verwirrung, in welche sein Kopf durch die unvermutete Nachricht von seiner Tochter geworfen worden und in der ersten Hast, ihr nachzureisen, nicht einmal daran gedacht, Herrn Blifil von dieser Entdeckung Nachricht zu senden. Inzwischen war er noch nicht weit weg, als er sich darauf besann, und des Endes beim ersten Kruge, den er erreichte, stillhielt und einen Boten abfertigte, Herrn Blifil zu hinterbringen, daß er seine Sophie wiedergefunden habe und daß er fest entschlossen sei, ihm solche alsobald antrauen zu lassen, wenn er ihm in die Stadt nachkommen wollte.

Da die Liebe, welche Blifil für Sophie empfand, von jener heftigen Art war, die durch nichts als etwa durch den Verlust ihres Vermögens oder einen dergleichen ähnlichen Zufall vermindert werden konnte, so war seine Begierde nach dieser Verbindung durch ihre Flucht keineswegs verändert worden, ob er gleich nicht umhin konnte, diese Flucht auf seine eigne Rechnung zu schreiben. Er nahm also dies Anerbieten gar willig an. In der That hatte er bei der Verheiratung mit dem Fräulein die Absicht, noch außer dem Geize eine sehr mächtige Leidenschaft zu befriedigen, und diese war sein Haß. Denn er war der Meinung, daß der Ehestand ebenso gute Gelegenheit gäbe, dem Hasse ein Genügen zu thun als der Liebe, und diese Meinung wird durch die Erfahrung höchst wahrscheinlich gemacht. Wenn wir, die Wahrheit zu sagen, nach dem Betragen verheirateter Leute gegen einander urteilen dürfen, so sind wir so ziemlich berechtigt zu schließen, daß der größeste Haufen bei seiner Eintracht in allen Dingen, die Herzen ausgenommen, sich es vorsetzt, der ersten dieser Leidenschaften gütlich zu thun.

Unterdessen stand ihm eine Schwierigkeit im Wege und diese[196] machte ihm Herr Alwerth. Diesem edlen Mann, als er durch Sophiens Entfernung (denn weder ihre Flucht noch deren Ursache konnte vor ihm verhehlt werden) die große Abneigung sah, die sie gegen seinen Neffen hatte, begann es herzlich leid zu thun, daß er die Sachen so weit getrieben hatte. Er war keineswegs einerlei Meinung mit solchen Eltern, welche es bei ehelichen Verbindungen für ebenso überflüssig halten, ihre Kinder um Rat zu fragen, als wenn sie etwa willens sind eine Spazierfahrt zu machen, und oft nur durch die Gesetze oder durch den äußerlichen Wohlstand wenigstens abgehalten werden, die äußerste Gewalt zu brauchen. Weil er im Gegenteil vielmehr den Ehestand als eine sehr heilige Stiftung ehrte, so hielt er jede vorläufige Behutsamkeit für nötig, um solchen heilig und unverletzlich zu bewahren und machte den sehr vernünftigen Schluß, dies zu bewirken sei kein sichrer Weg, als ihn auf vorhandne gegenseitige Zuneigung zu begründen.

Blifil heilte zwar seinen Oheim sehr bald von allem Aerger über vorgegangenen Betrug durch eine Menge von Versicherungen und Beteurungen, daß er selbst hintergangen worden, womit denn auch die oft wiederholten Erklärungen des Herrn Western ziemlich stimmten. Nun aber jetzt den Herrn Alwerth zu überreden, daß er seine Einwilligung von neuem erteile, die Anwerbungen zu erneuern, das war nach allem Anschein eine so schwere Sache, daß dieser Anschein für ein weniger unternehmendes Genie völlig abschreckend gewesen wäre; allein dieser liebe junge Herr kannte seine eignen Geistesgaben so gut, daß ihm nichts von alledem, wohin die Verschlagenheit reichen konnte, zu schwer schien, damit fertig zu werden.

Hier sonach stellte er die Heftigkeit seiner eignen Liebe vor und die Hoffnung, den Widerwillen des Fräuleins durch treue Beständigkeit zu überwinden. Er bat, daß er in einer Angelegenheit, von der seine ganze künftige Ruhe abhinge, wenigstens die Freiheit haben möchte, alle erlaubten Mittel zu versuchen, um zu seinem Zwecke zu gelangen. Der Himmel solle ihn bewahren, sagte er, nur jemals daran zu denken, anders als durch die sanftesten Mittel seinen Wunsch zu erreichen. »Ueberdem, liebster Herr Onkel,« sagte er, »können Sie, wenn diese fehlschlagen sollten (und dann ist es ja immer noch zeitig genug) Ihre Einwilligung versagen.« Er führte das lebhafte Verlangen an, womit Herr Western diese Verbindung wünschte, und endlich benutzte er Jones' Namen aufs beste, dem er alles Vorgefallene schuld gab und zeigte, wie es ordentlich ein christliches Werk wäre, ein so würdiges junges Frauenzimmer vor ihm in Sicherheit zu bringen.

Alle diese Gründe wurden aufs beste unterstützt vom Herrn Schwöger, welcher sich ein wenig länger bei dem väterlichen Ansehen aufhielt und ihm mehr Gewalt zuschrieb, als Herr Blifil selbst zu thun für gut befunden hatte. Er schrieb die Maßregeln, welche Herr Blifil zu versuchen wünschte, christlichen Beweggründen zu; »und,« sagte er, »obgleich der liebe junge Herr der christlichen Liebe zuletzt erwähnt hat, so bin ich doch fast gänzlich überzeugt, daß sie das Erste und Vornehmste ist, was bei ihm in Betrachtung kommt.«[197]

Quadrat würde vermutlich, wenn er zugegen gewesen, dasselbe Liedlein angestimmt haben, obgleich in einer andern Tonart, und würde das Verfahren der ewigen Regel des Rechts genau angemessen gefunden haben, allein er war schon seiner Gesundheit wegen nach dem Brunnen zu Bath verreist.

Alwerth gab endlich, obgleich nicht ohne Widerwillen, dem Verlangen seines Neffen nach. Er sagte, er wolle ihn nach London begleiten, woselbst er die Freiheit haben solle, alles redliche Bestreben anzuwenden, um das Fräulein zu gewinnen. »Aber, das versichere ich dir,« sagte er, »nie werde ich dareinwilligen, daß ihrer Neigung Zwang und Gewalt angethan werde, und nie soll sie die deinige werden, wofern sie nicht dahin gebracht werden kann, dir ganz freiwillig die Hand zu geben.«

Solchergestalt verführte Alwerths Liebe gegen seinen Neffen den höheren Verstand, sich von dem niedrigeren im Triumph aufführen zu lassen, und solchergestalt läuft oft die Zärtlichkeit des besten Herzens mit der Klugheit des besten Kopfs davon.

Blifil, der diese unverhoffte Einwilligung von seinem Oheim erhalten hatte, ruhte nicht, bis er sein Vorhaben ins Werk richtete. Und da gerade eben keine dringenden Geschäfte des Herrn Alwerth Gegenwart auf dem Lande notwendig machten, und für Mannspersonen nur wenig Zurüstungen zu einer solchen Reise nötig sind, so machten sie sich gleich des folgenden Tages auf den Weg und langten eben des Abends in der Stadt an, als Jones, wie wir gesehen haben, mit Rebhuhn im Schauspielhause seinen Spaß hatte.

Am Morgen nach seiner Ankunft ging Herr Blifil hin, Herrn Western zu besuchen, von dem er sehr gütig und freundlich empfangen wurde und alle möglichen (vielleicht mehr als möglich waren) Zusicherungen erhielt, daß er ganz in kurzem so glücklich werden sollte, als Sophie ihn machen könnte, dabei wollte auch der Junker nicht zugeben, daß er wieder nach seinem Oheim ginge, ehe er ihn fast wider seinen Willen zu seiner Schwester geführt hätte.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 195-198.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings
Tom Jones: Die Geschichte eines Findlings
Tom Jones 1-3: Die Geschichte eines Findlings: 3 Bde.
Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings
Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon