Achtzehnter Brief
Julie an Wilhelmine

[51] Beste Wilhelmine! meine Mutter ist krank, und Olivier ... ach, Olivier liebt mich nicht mehr. – Stundenlang kann er in sich selbst vertieft sitzen, dann springt er mit einem male auf, tritt vor mich hin, starrt mich an und versinkt dann wieder in seine vorige Träumerey. Es ist als wäre ich ihm fremd geworden. Sonst war er doch freundlich, jetzt ist er so[51] ernst, mißt mich so sonderbar mit den Augen. – Sollte er denn wirklich glauben, ich mache alles so schlecht, wie meine Mutter es sagt? – Aber er bedenkt nicht, daß sie krank ist, und daß man ja selten einem Kranken etwas recht machen kann. Wenigstens sollte er doch meinem Bestreben Gerechtigkeit wiederfahren lassen.

Andere loben mich dann wieder so übermäßig. Aber wie kann mir das Freude machen! – Es sticht gar zu sehr ab, gegen den immerwährenden Tadel meiner Mutter, und ihn, das sehe ich ja, macht es immer tiefsinniger. O meine Wilhelmine! schreibe mir doch einmal; damit ich weiß, daß ein menschliches Wesen mich noch liebt.[52]

Ich lese den Brief wieder durch – freylich, meine Mutter hat Recht, ich schreibe jetzt sehr schlecht. Aber Liebste! wie ist es anders möglich? Kaum alle vier Wochen bekomme ich einmal eine Feder in die Hand, und erholt sich meine Mutter nicht bald; so werde ich das Sprechen eben so verlernen. Selten kann ich etwas sagen, worüber sie sich nicht ärgert.

Ach liebe Wilhelmine! – ich sollte es wohl verschweigen, aber wirklich, ich leide jetzt sehr viel, und sehne mich unbeschreiblich Dich einmal zu umarmen.[53]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 51-54.
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