Neunzehnter Brief
Wilhelmine an Julie

[54] Er sollte Dich nicht mehr lieben? – Nimmermehr! Aber Du, Du liebst ihn! das ist leider bewiesen. So muß ich Dich verlieren? – Dich um dieses Mannes willen verlieren! – Wie war es möglich! Wie konntest Du den schrecklichen Abstand übersehen! –[54] Aber da liegt das Unglück! eigentlich liebst Du nicht ihn; denn das was Du so nennst ist nicht er. Dein eigenes Geschöpf, das Gebilde Deiner Phantasie ist es; ausgestattet mit allen Eigenschaften, die Dein liebendes Herz bedurfte. Aber wenn nun der Traum verschwindet, wenn Du nun diesen Menschen, mit dem ausgebrannten Herzen, als Deinen Herrn ehren, seinen Launen huldigen, und seinen lasterhaften Wahnsinn den höchsten Verstand nennen sollst? – Wenn Dein Kindersinn für Dummheit, Deine Sanftmuth für sclavische Furcht, und Dein edles Dahingeben für schwächliche, weibische Anhänglichkeit gelten muß. – Wer wird mich dann trösten! –[55]

Und was schwazte ich vorhin! Er liebe Dich noch? Hat er Dich denn jemals geliebt? – woher käme ihm der Sinn, woher die Kraft dazu! – Er kann nur zweierley; Dich sinnlich begehren, oder Dich wie eine fremde Erscheinung anstaunen. Irre ich nicht; so hast Du ihn gezwungen, sich zu dem letzten zu erheben, und weiter bringst Du es nicht, verlaß Dich darauf.[56]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 54-57.
Lizenz:
Kategorien: