Drey und zwanzigster Brief
Reinhold an Olivier

[72] Ob es Schwärmerey oder Natur ist? – Warum soll Schwärmerey der Natur entgegengesetzt werden; da sie in der Natur gegründet ist? – Man denkt sich darunter ein Losreißen von allem Sinnlichen, ein Umherschweifen in höhern Regionen, wo keine Erfahrung uns folgt. Aber diesem Losreißen verdanken wir[72] das Edelste was wir haben. Ohne Schwärmerey hätten wir keine Philosophen und keine Dichter, keine Religion, keine Kunst und keine Wissenschaft. Vor der Entdeckung Amerika's war Kolumbus ein Schwärmer, und den ersten Schiffer hat man vielleicht einen Wahnwitzigen genannt. Gewiß kann man über einen Menschen keinen schrecklichern Fluch aussprechen als den: erhebe dich nie über die Erfahrung. –

Ich weiß nicht mehr was ich glaube – sagst Du – aber Du fühlst es; und das ist genug, Gott, das Schicksal, die Natur, oder wie Du es nach Deiner Vorstellungsart nennen willst – liebt Dich und führt Dich[73] weise. Dieses himmlische Mädchen allein konnte Dein Herz retten. Mögte es auf lange Zeit, mögte es für immer seyn! –

Freilich, ich gestehe es, kann man sich bey aller Freundschaft einer Art Unwillens nicht erwehren, daß dieses herrliche Geschöpf Dir aufgeopfert werden soll. Aber ich bin nun einmal Dein Freund; wie kann ich aufhören es zu seyn? – Mag es das Schicksal verantworten! – Ich darf nichts als Dir treu bleiben.[74]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 72-75.
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