Zwey und dreißigster Brief
Wilhelmine an ihre Mutter

[100] Ich werde also meine theure Mutter mit ein paar recht klaren gesunden Augen wieder finden? und diese lieben Augen werden segnend auf mir ruhn. – Ach wie hat sie mich geliebt und getragen! das begreife ich erst jetzt an der Seite meiner Julie, wo alle gute Empfindungen die herrschenden werden.

Sie streitet nicht, sie widerspricht mir nicht; und doch habe ich schon wer weiß wie viele Male meine Meinung aufgegeben. Machte[100] ich irgend eine kleine boshafte Anmerkung, konnte ich mich eines bittern Urtheils über die Männer und was dahin gehört, nicht enthalten; so erwartete ich wenigstens eine mißbilligende Miene von Julien; aber ich sah nichts als das Lächeln, was unser Zeichenmeister schon in ihrer Kindheit das unnachahmliche nannte.

Zärtliches Mitleiden, holde Schaam, daß ihr reines Herz sie über den Andern erhebt, Angst, Vorgefühl der Reue, die es sich bereitet – das alles liegt in diesem wunderbaren Lächeln. Wahrscheinlich hält sie jeden Fehler, jedes Laster für eine Krankheit. Wenigstens kann man ihr Betragen nicht anders erklären.[101] Gerade zu den boshaftesten Menschen fühlt sie sich am meisten hingezogen. So wie die Ärzte sich bey den gefährlichsten Kranken am längsten verweilen.

Seit acht Tagen ist hier ein Weib, dessen Zunge nur aus Gift und Galle zusammengesetzt scheint. Nur, sobald ich Julie vermisse, finde ich sie gewiß an der Seite dieses Weibes. Jeden Ausbruch der Bosheit scheint sie für einen Ausbruch des Schmerzes und sich für berufen zu halten, ihn zu lindern. Ein Kind, eine schöne Blume, eine heitere Aussicht, müssen ihr wechselsweise dienen, die scheußliche Phantasie des Weibes zu beschäftigen. Oft wenn die blauen Lippen sich zu einer[102] neuen Lästerung öfnen, schließen sie sich wieder bey Juliens Lächeln und das Gift bleibt in dem Drachen zurück.

Donnerstags Abends. Ich hatte Recht, beste Mutter! Wahrhaftig! sie hält das scheußliche Weib für krank. Heute war mein Sinn darauf gesetzt, sie zu einem ordentlichen Widerspruche zu zwingen.

Aber, sage mir – redete ich sie an – wie kannst Du es nur zwey Minuten bey dem Weibe aushalten?

»Ach sie leidet sehr viel!«

Worüber klagt sie denn?

»Sie klagt nicht; aber ihr Betragen klagt für sie.«[103]

Gegen sie! willst Du sagen. Das Weib ist ja aus lauter Gift und Galle zusammengesetzt.

»Beste Wilhelmine! wenn das ist, was kann sie denn für ihr Betragen?«

Nun! was jeder dafür kann, der einen freien Willen hat.

»Ach Gott! Kannst Du einem Wahnsinnigen freien Willen zuschreiben?«

Wie? Du hältst sie für wahnsinnig?

»Nicht in dem gewöhnlichen Sinne. Aber glaube mir, jeder lasterhafte Mensch ist es minder oder mehr. Nanntest Du nicht selbst einmal Oliviers Denkungsart lasterhaften Wahnsinn?«[104]

Ja, wenn ich ihn nicht sehe, wenn ich nicht unmittelbar unter seiner Bosheit leide. Aber in dem Augenblicke, wo ich beleidigt werde, muß ich die Beleidigung instinktartig zurückwerfen, muß voraussetzen, der Beleidiger sey ein freier Mensch, fähig, sich nach vernünftigen Gründen zu bestimmen. Hat er es bis dahin nicht gekonnt; so verhelfen ihm sehr oft meine Vorwürfe dazu. Er begreift, daß er anders handeln muß, um mir nicht hassenswürdig zu werden.

»Liebste Wilhelmine! dies glauben viele Menschen, und doch – was bringt dieser Glaube hervor? Nach meiner kleinen Erfahrung gerade das Gegentheil von dem, was[105] man hoft: daß ich in dem Beleidiger – schuldiger oder unschuldiger Weise – eine unangenehme Empfindung erregt habe, ist ja schon durch die Beleidigung erwiesen. Sie selbst, obgleich sie ihm eine täuschende Erleichterung verschaft, bringt wieder eine unangenehme Empfindung hervor. Nun füge ich – um das Unglück vollkommen zu machen – eine drey doppelt so unangenehme hinzu. Wie natürlich, daß er durch eine gerechte oder ungerechte Kraftäußerung diese Menge unangenehmer Empfindungen auf mich, den widrigen Gegenstand zurückwirft. Und so ist denn der Anfang zu einer, wer weiß wie viele Jahre dauernden Feindschaft gemacht.«[106]

Also muß man alles dulden, alles über sich ergehen lassen?

»Was die Männer sollen, das weiß ich ich nicht. Sie haben ihren Degen und mit dem läßt sich vielerley ausmachen. Aber Güte und Sanftmuth sind ja unsere einzigen Waffen? Mir wenigstens, kommt eine Frau die sich auf irgend eine Weise zu rächen sucht, wie eine ekelhafte Mißgeburt vor.«

Aber Madame R.... ist nicht ekelhaft – –

»Liebste! viele Kranke sind ekelhaft; muß man sie darum verlassen?«

Wenigstens folgt Jedermann, der Madame[107] R.... kennt, dieser sehr natürlichen Empfindung.

»Gerade dadurch wird sie noch mehr erbittert.«

So? mich dünkt sie könnte sich aber auch dadurch bewogen fühlen etwas weniger giftig zu werden. Denn, sage was Du willst, man muß sich doch, wegen ihrer Bosheit, an sie selbst halten.

»O ja! wenn man abgerechnet hat, was Erziehung, Umstände und Temperament dazu beigetragen haben. Wenn man versucht hat, was die äußerste Liebe über sie vermag.«

Und dazu bist nun gerade Du berufen?[108] Mußt Dich um dieses Weibes willen von einer Freundin trennen? Ich will es noch erleben! in das Polterkämmerchen wird man mich stecken.

»Meine Wilhelmine!« – rief sie – schloß mich in ihre Arme, und erstickte alle übrige Vorwürfe mit ihren Küssen.

Da kommt sie! Ich muß schließen und habe Ihnen noch gar nicht geschrieben, was ich eigentlich schreiben wollte. Nun, das nächste mal. Viele Grüße an meinen lieben Vater und an Reinhold.[109]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 100-110.
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