Ein und vierzigster Brief
Reinhold an Olivier

[140] Bester Olivier! wenn Du noch nicht gegangen bist; so höre mich. Ach daß es Dir möglich wäre Dich zu fassen! die Folgen einer Übereilung zu begreifen. – Hast Du alles vergessen? – Sie sollte frey bleiben, Du wolltest sie nicht zwingen. – Nun soll sie sich aufopfern, soll ihr ganzes Leben hindurch weinen.[140] Was hat die Reine, Unschuldige gethan, so in ein entsetzliches Schicksal verwickelt zu werden? Warum soll sie den Mann ihres Herzens nicht wählen dürfen? – Deine Liebe selbst müßte sie schützen. Welch eine Gestalt hat diese Liebe angenommen! – Könnte ihr ärgster Feind schlimmer gegen sie handeln? –

Olivier reiß Dich einmal los von Dir selbst! Du kannst es, wenn Du es willst. Schreite muthig aus dem Zauberkreis der Leidenschaft. Jetzt bist Du ein Dritter, bist nicht mehr der von schrecklicher Eigenliebe bis zum Wahnsinn verblendete Olivier. Olivier! was fühlt nun Dein menschliches Herz? – Ach[141] sieh! es kehret nie wieder das Blütenalter der Liebe. – Soll sie es niemals durchleben? Wenn sie nun einst, wie Du es glaubst, mit uns zerstört wird, wenn kein Bewußtseyn ihres vorigen Zustandes möglich ist, wenn vielleicht kein besserer ihrer wartet; dann willst Du es seyn, der ihr die einzigen Augenblicke raubt, die den Menschen für sein Daseyn trösten können!

Nicht wahr? Dein innigstes Mitleiden erwacht. Nein, Du willst nicht zum strafbarsten Mörder an ihr werden![142]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 140-143.
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