Funfzigster Brief
Reinhold an Wilhelmine

[188] Bestes Fräulein! Das war nicht Ihr Ernst. Wie könnten Sie sich von Ihrer Julie trennen; jetzt da sie Ihrer am meisten bedarf? – Ich will sie nicht rechtfertigen; aber das Mitleiden, die innigste Theilnahme ihrer Freundin[188] darf ich für sie auffodern. Wie viel mag sie leiden! – sich selbst hat sie verloren, nun soll sie auch noch ihre Wilhelmine verlieren. –

Doch welch ein Geschwätz! In der That ich verdiene eine Strafe, daß ich von einer kleinen Aufwallung so viel Wesens mache. Wilhelminen kennen und glauben, sie werde sich jemals von Julien lossagen! Diese Lächerlichkeit springt in die Augen. – Kein Wort mehr davon! Es wäre das was die Franzosen nennen: die Heiligen bekehren.

Noch einmal! ich wollte Julie nicht rechtfertigen; aber mir selbst das alles begreiflich machen, der Versuchung konnte ich nicht[189] widerstehen. Wenn sie nun – dachte ich – ihre Freiheit bewahrt hätte? was würde die wahrscheinliche Folge gewesen seyn? –

Sie hätte einem Andern ihre Hand gegeben und ... wäre glücklicher geworden? – Schwerlich! gewiß nicht. Welcher Mann könnte dieser reinen Seele das seyn, was sie ihm seyn wird? – In jeder menschlichen Verbindung wird sie aufopfern müssen. Nie wird sie an ein menschliches Wesen hinauf sehen und sich in seinem Anschauen mit Wohlgefallen vertiefen können. Nicht einmal ein ähnliches wird sie finden. Mit einem Worte! hienieden ist kein eigentliches Glück für sie zu erwarten. Sicher hat sie auch längst Verzicht[190] darauf gethan. Findet sie nur einen Mann, der sie begreift; mehr darf sie nicht hoffen. Und, mein Fräulein, mögen wir es gestehen wollen oder nicht, diesen Mann hat sie gefunden.

Hier, lesen Sie diese Briefe, und wenn Sie dann nicht überzeugt werden; so gebe ich mich gefangen.[191]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 188-192.
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