Sechs und funfzigster Brief
Wilhelmine an Reinhold

[212] Ein Kind von fünf Jahren machte Julien vor einigen Tagen ein Kompliment, das der feinste und gewandteste Dichter kaum schmeichelhafter und passender hätte ersinnen können.[212]

Nachdem wir die Gemählde in der äußern Gallerie besehen hatten, wollten wir eben in die innere treten; als ein kleiner goldlockiger Knabe mit großem Angstgeschrey zu seiner Mutter lief, und sich so tief er nur konnte, in ihre Kleider zu verhüllen suchte.

»Was fehlt Dir, mein Kind?« – sagte die Mutter – »Ach Mama! die große Frau! Sie ist herunter gestiegen, sie kann gehen!« – und so suchte er sich immer tiefer zu verbergen. Die Mutter, ein sanftes, vernünftiges Weibchen, ließ den kleinen Krauskopf ohne ihm vorzudemonstriren, in ihren Kleidern, und fragte erst, nachdem er schon mehrere Male aus[213] seinem Hinterhalte hervorgeschielt hatte: »Wo ist denn die große Frau?« – »Da! da!« – rief der Knabe und zeigte auf Julie – »Sie hat ein hübsches Kleid angezogen. Aber Mama: wo ist der kleine Junge? » – »Ach!« – sagte die Mutter – »er meint die große Madonna!«

Nun ward Julie wie mit Blut übergossen, und peinigte mich, sogleich mit ihr fortzugehen. Natürlich ward ich ein wenig böse. In der That, sie hat mir durch diese übertriebene Schüchternheit schon so manches Vergnügen geraubt. Überdem ehrte Jedermann ihre Verlegenheit. Nur ein junger Künstler umarmte den Knaben und lobte ihn gegen die Mutter.[214]

Demohngeachtet mußte ich mich entschließen, wollte ich sie nicht allein gehen lassen, für diesen Morgen alles aufzugeben, und mit den anhaltendsten Bitten habe ich sie noch nicht wieder hinauf bringen können.

Nun ist sie beständig zu Hause und läßt sich kaum zu einem Spaziergange bereden. »Der Knabe – sagte sie letzt mit Thränen in den Augen – hat eine Lächerlichkeit auf mich geworfen. Man wird mich die herumwandelnde Madonna nennen.« –

»Nun, und wenn man Dich so nennt? Ein gewaltiges Unglück!!«

»Ein Frauenzimmer mit einem Beynamen!« – sagte sie und eilte nun, ohne weiter[215] auf meine Ausrufungen zu hören, mit sehr betrübtem Gesicht in ihr Zimmer.

Der kleine vorlaute Bube wird mich also wohl zwingen *** weit früher als ich gewollt hätte zu verlassen. Doch werde ich Ihnen vor meiner Abreise sicher noch einmal schreiben.[216]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 212-217.
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