Sechs und sechszigster Brief
Wilhelmine an Reinhold

[248] Wir haben den Obersten sehr schlecht gefunden. Aber ich sehe es: alles hat sich verschworen. Man will sie aufopfern. Mit welcher sonderbaren Gewalt lenkt dieser Mann aller Herzen nach seinem Willen? – Antonelli, der Adjutant, mehrere angesehene junge Männer[248] verrathen alle Augenblicke: wie tief sie von Juliens Schönheit gerührt werden; und dennoch scheinen sie sich das Wort gegeben zu haben, alles zu thun, um sie ihm näher zu bringen.

Das ist ein Lobpreisen! ein Wehklagen! – Sogar den Arzt haben sie bestochen. »Fräulein Julie soll ihm die Medizin reichen. Fräulein Julie soll dies, soll jenes thun.« Und dabey treibt Antonelli ein Wesen, daß ich nicht weiß wie sie es aushalten kann.

So wie er naht steigt ihre Verlegenheit bis zur peinlichsten Unruhe. Glücklicher Weise ist er zu sehr mit seiner eignen Empfindung beschäftigt, um es zu bemerken. Aber ich[249] sehe bestätigt, was ich schon vor längrer Zeit ahnete. Sie liebt ihn, – können Sie es begreifen – das Mitleiden wird sie hinreißen, sie wird sich aufopfern.

Das alles muß ich nun so mit ansehen – Soll ich sie aufklären über ihre Empfindung? – soll ich es nicht? Gott mag es wissen! ich weiß nicht mehr was hier gut ist.[250]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 248-251.
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