Dritter Brief
Julie an Wilhelmine

[10] Vormals schien mir meines Oliviers Schmerz der tiefste, jetzt scheint mir der Deinige noch tiefer. O meine Wilhelmine! was sprichst Du von zerstörten Hoffnungen? – Glaubst Du,[10] diese Hoffnungen würden jemals erfüllt worden seyn? – Glaubst Du, die Natur würde sich nicht rächen? – Hat sie zwey Weiber geschaffen sich alles zu werden, und ihre unwandelbaren Gesetze zu verspotten? –

Gewiß! Du würdest noch früher als ich, Dich elend gefühlt haben. Denn siehe, Dir kann ich es wohl vertrauen; ich habe niemals etwas von dem Erdenleben gehofft. Wie soll ich es Dir beschreiben? – Mir ist, als schweben nur Schattengestalten mir vorüber, als sey nichts wirklich von dem was mich umgiebt.

Töne, Farben, ja die gröberen Sinne des Geschmacks, des Geruchs, scheinen mir auf etwas Vollkommneres zu deuten. Wenn ich[11] eine Rose, eine Hyacinthe rieche, erwachen Ahnungen in mir, für die ich keinen Nahmen habe. Sehe ich schöne Gestalten, höre ich harmonisch verbundene Töne; dann verklären sich diese Ahnungen zur Gewißheit, und mir ist, als sollte ich plötzlich der Erde entfliehn.

Was mich dann noch hält, was mir dann hier noch wirklich erscheint, ist: ein stiller, heiliger Sinn, der sich stets zu dem Vollkommnen neiget; aber darum die Schattenfreude nicht störet.

O mögte ich ihn haben diesen Sinn! mögte ich ihn erhalten, wenn er mir einst zu Theil wird! leider! jetzt bin ich noch weit davon entfernt. Wie könnte sonst Andrer Schmerz[12] so schrecklich auf mich wirken? – Ist mir die Freude ein Schatten, warum ist er es nicht auch? warum reißt er mich hin zu Irrthümern? warum will ich dem Schicksale vorgreifen? –

Doch was schwatze ich! beste Wilhelmine! versuche keinen Sinn da hinein zu bringen. Es ist keiner darin. Gewiß keiner.[13]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 2, Posen und Leipzig 1802, S. 10-14.
Lizenz:
Kategorien: