Neun und zwanzigster Brief
Olivier an Reinhold

[94] Dieser Mensch bringt mich noch um, mit seiner glühenden Phantasie. Meinst Du, er verberge irgend eine Empfindung vor mir? Mit einer Heftigkeit, mit einem verzehrenden Feuer spricht er sie aus, reißt mich hin, überwältigt mich. Oft habe ich, zu meinem eignen Schrecken, mich selbst, und alles, was ich zu fürchten hatte, vergessen.

Wenn endlich meine innere Quaal aufs höchste steigt, meine Wuth über seine glühenden[94] Schilderungen hervorbrechen will, ergreift er mich plötzlich mit seiner gewaltigen Liebe.

Ich, ich selbst bin es nun, den er schildert. Mit allen meinen Leiden, mit allen meinen schrecklichen Fragen und Zweifeln.

Im höchsten Erstaunen sehe ich ihn in das Innerste meines Herzens dringen, Gefühle entwickeln, für die ich bis jetzt keinen Namen hatte, Begebenheiten hervorrufen, die ich verworren nur ahnete.

In dem Augenblicke, wo ich ihn dann mit meinen Händen zerreißen mögte; weil er sie alle nennt, meine Marter, in dem Augenblicke fällt er ein mit seiner seelenerschütternden Klage. Mein Grimm löst sich in Wehmuth[95] auf, er stürzt in meine Arme, und, ohne es zu wollen, drücke ich ihn fest an mein Herz.

Aber ihn hier zu behalten, war mir unmöglich. Alle seine Bitten vermogten nichts, er mußte sich ergeben. Gleichwohl bestand er mit einem unerhörten Trotze darauf, sich nicht weiter als eine halbe Stunde von hier zu entfernen.

Nun drohte ich mit meiner eignen Abreise. »Thue es – sagte er – und wenn Du bis an das Ende der Welt gehst; ich folge Dir nach.«

»Mir?« – wiederholte ich mit Bitterkeit.

»Ja Dir! Meinst Du, ich könne ohne[96] Dich, Du ohne mich leben? – Wer versteht Dich, wer tröstet, wer liebt Dich wie ich?«

»Bestechungen!«

»Wehe Dir, wenn Du es glaubst!« –

»Ich werde schon Mittel finden.« –

»Sie helfen Dir nichts.«

»Was unterstehst Du dich? –

»Ich unterstehe mich, das Unmögliche unmöglich zu nennen. Mache was Du willst! uns scheidest Du nicht.«

»Uns?« –

»Ja! uns

»Sie meinst du.«

»Wenn ich sie meinte; würde ich es sagen.«

»Du liebst sie.«[97]

»Nein, Dich liebe ich, sie bete ich an.«

»Und das soll ich dulden?«

»Kannst Du es ändern?«

»Nicht in mein Haus!«

»Das verspreche ich Dir.«

»Nicht in meinen Garten!«

»Auch das.«

»Noch auf die Anhöhe!«

»Sie gehört Dir nicht.«

»Ich werde sie kaufen.«

»Ich habe sie schon gekauft.«

»Das hast Du gethan, um sie zu sehen, um von ihr gesehen zu werden.«

»Das Letzte ist nicht wahr, auch ist es unmöglich.«[98]

»Aber Du willst sie sehen.«

»Ja, weil es Dir nicht schadet.«

»Es beunruhigt mich.«

»Und mich tödtet es, wenn ich sie nicht sehe. Was willst Du lieber?« –

»Du trotzest!«

»Nein. Das sagst Du nur, Du, glaubst es nicht. Sieh mich an! ist es wahr, daß ich ohne sie nicht leben kann? ist es wahr, daß es mir unmöglich ist, jemals etwas Schlechtes zu wollen? ist es wahr, daß ich Dich liebe, daß ich mein Leben für Dich lassen würde?«

Ach! dann sehe ich in sein großes, schwarzes Auge, und verstumme.[99]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 2, Posen und Leipzig 1802, S. 94-100.
Lizenz:
Kategorien: