Einem Freunde

[14] Du möchtest fort aus diesem grauen Norden mit seinem wolkenschweren Himmel und mit den müden Tagen seiner langen Herbste ... du möchtest fort aus all dem herben Ernst und steten Kampf ...

du sehnst nach Farbe dich, nach Sonne und nach Freude, nach stillen Träumen blauer Meere zu Füßen vermooster Götterbilder und zerfallener Tempel ...

das Herz dir wieder zu gesunden und Mut zu holen, Kraft, zu Tat und Arbeit, wie du sagst ...


Ich aber glaube fast, ich weiß es besser: das frohe Land, von dem du träumst, mit immer blauem Himmel, mit lachenden Märchen, süßem Liebeslied ... ich glaube, es ist nicht Italien, wie du meinst ...

ich brauche dir nur ins Gesicht zu sehen, wenn[15] du sagst, der Bann des Tages ließe dich nicht los ... ich brauch nur zuzuhören, wenn du dann und wann von deinem Leben sprichst ... ich brauche nur dir einmal zu begegnen, am Hügelkreuzweg droben, wenn du stehst und übers Tal hinsuchst zur Ferne ...

ich weiß es besser dann, Freund, als du selbst: das frohe Land, von dem du träumst ... und alle, die sich so gleich dir fortsehnen aus den langen Herbsten unseres Nordens, das frohe Land mit immer heiterem Himmel, mit farbenfreudigerem Leben und leisen Wiegenliedern blauer Meere zu Füßen vermooster Götterbilder und zerfallener Tempel ...


Nein, es ist nicht Italien, wie du's nennst und wie du wohl auch meinst ...

ich seh ins Auge dir und weiß es besser:

es liegt nicht vor dir ...

es liegt ... hinter dir!

Quelle:
Cäsar Flaischlen: Gesammelte Dichtungen. Band 1: Von Alltag und Sonne. Stuttgart 1921, S. 14-16.
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