6. Der 130. Psalm

Ein Lied im höhern Chor

[11] Aus diesem tiefen Schlund', aus dieser schwarzen Gruft,

hab' ich so oft und oft, o Herr, zu dir geruft:

Ach Vater, höre mich! ach laß dein' Ohren merken

auf meines Flehens Stimm'. Herr, so du nach den Werken[11]

mit uns verfahren wilst, uns unsre Missetat

und Sünde rechnen zu, so man verübet hat,

Herr, Herr, wer wird vor dir in seinem Tun bestehen?

Wir müssen allesampt auf eins zu scheitern gehen.

Du aber, Gott, vergiebst, daß man dich fürchten sol,

und so kan mancher noch vor dir bestehen wol,

der nur frisch aus bekennt und Gnad' umb Recht begehret,

das ihm denn, milder Herr, von dir stracks wird gewehret.

So kan man selig sein. Ich harre meines Herrn,

und meine Seele harrt. Der frische Saft und Kern,

den sein Wort in sich hat, heißt so mich auf ihn hoffen.

Diß Wohnhaus meiner Seel' halt' ich dem Herren offen

nicht an dem Tage nur. Wenn noch die dicke Nacht

umb mein Gemach ist her und eh die Sonn' erwacht,

so denk ich schon an ihn und warte mit Verlangen

auf ihn und seinen Trost. Ganz Israel sol hangen

mit seinen Hoffnungen und Seufzen, Herr, an dir,

denn blos bei dir allein ist Gnade für und für.

Du bist die Gnade selbst. Wol! hoffet all' ihr Frommen,

wir wollen doch durch ihn zur alten Freiheit kommen!

Erlösung hat er gnung. Und er, der treue Gott,

wird Jacob machen los von aller Schuld und Not.


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 11-12.
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