18. Christum lieben ist beßer denn Alles wißen

[31] Ohn Eins ist alles nichts, was etwas ist und heißt,

so viel der Sternenzelt in seinem Zirk' umschleust.

Diß Eins ist über All, in allem doch beschlossen;

stets seine, ganz und frei, in alles doch gegossen,

ein lebensvoller Geist; sein Absein ist der Tod.

Wer ohne dieses ist, ist niemals ohne Not.

Was bin ich doch bemüht um alles zu erlernen,

was nahe bei uns ist und was uns kömpt von fernen,

was hier und da und dort und überall geschieht,

darnach ein geizigs Aug' aus Herzenshunger sieht?

Könt' ich ein' iede Kunst, wär' aller Reichtum meine,

hätt' ich der Ehren Thron zu eigen ganz alleine;

gieng' alles mir nach Lust und wüst' ich keine Zeit,

die mich von Jugend auf nicht herzlich hätt' erfreut,

ja wüst ich, (welches doch noch Keinem ist gegeben,)

daß ich auch keinen Tod auf Erden solt' erleben,

mein Name reichte hin bis in die neue Welt,

an mir wär' alles das, was man für Alles hält,

ganz alles hätt' ich ganz: was wäre dieses Alles?

Ein Alles auf den Schein, ein Conterfet des Schalles,

des Schatten leiblichs Bild, Verblendung des Gesichts,

ein Schlauch an Leere voll, mit einem Worte Nichts.

O Alles über All! O mehr als alles Alles,

vor Allem allzeit da, ein Aufstand alles Falles,

nach Allem stets wie vor, ein Einzler an der Zahl,

doch über alle Zahl und Zeiten allzumal,

für dem der schärfste Witz ist Aberwitz zu nennen,

du aller Schätze Schatz, den nur die Seelen kennen,

für dem die Ehre Schmach, die Wollust Unlust heißt,

ein geistgestalter Mensch, ein menschgestalter Geist,

o Menschgott, Heiland, Heil! dem alle Dinge geben

in Allem allen Preis, du alles Lebens Leben[31]

und alles Todes Tod! du bist es, Jesu, du,

ohn dem Nichts Alles ist und minder noch darzu.

Ach Alles, laß mein Nichts dir darumb doch gefallen,

dieweil es nichts wil ein in andern Sachen allen,

gieb, Alles, mir, dem Nichts, in allem Rat und Tat,

so hab' und kan ich mehr, als Alles kan und hat!


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 31-32.
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