16. Über seinen Traum

1635.


Ists müglich, daß sie mich auch kan im Schlafe höhnen?

Wars noch nicht gnung, daß ich mich wachend nach ihr sehnen

und so bekümmern muß, im Fall' sie nicht ist hier?

Doch sie ist außer Schuld. Du, Morpheu, machtest dir

aus mir ein leichtes Spiel! Der alte Schalk, der liefe,

indem ich, gleich wie sie, frei aller Sorgen schliefe.

Er drückt' ihr schönes Bild in einen Schatten ab

und bracht' es mir so vor. Die liebe Schönheit gab[217]

der Seelen ihren Geist. Sie fingen sich zu lieben,

zu sehn, zu küssen an. Die süßen Freunde trieben

ihr schönes Tun mit sich so herzlich und so viel,

bis daß, indem der Geist noch hat sein Liebesspiel

und in dem Schatten scherzt, mein matter Leib erwachet.

Das Bild, in dem er sich noch so ergetzlich machet,

fleugt ganz mit ihm darvon und kehrt an seinen Ort.

Was tu' ich Armer nun? Die Seele, die ist fort,

mein Leib lebt auf den Schein. Wie wird mirs doch noch gehen?

Sag' ichs ihr oder nicht? Sie wirds doch nicht gestehen.

Wer, o wer wird mich denn entnehmen dieser Last?

Ach, Schwester, fühlst du nicht, daß du zwo Seelen hast?


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 90-91,217-218.
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