9. Auf einer Jungfrauen ihren Geburtstag

[335] Der Tag, schöne Menschgöttinne,

der Tag scheinet euch zu Sinne,

euch und uns und aller Schaar,

die euch heute Bänder bindet,

die euch frische Kränze windet

und setzt auf das güldne Haar.


Daß der Lenz die Welt umarmet,

daß der Erden Schoß erwarmet,

daß die Nächte werden klein,

daß der Wind gelinder wehet,

daß der lucker' Schnee zergehet:

das macht euer Sonnenschein.


Euer Sonnenschein, der schöne,

da die muntern Venus-Söhne

heut' in lauter Jauchzen stehn,

den die edlen Karitinnen

und gelehrten Pierinnen

heut' in Fröligkeit begehn.


See und Wald und Feld und Auen

sieht man sich nach Lust umschauen,

die sich heut' auch schon stellt ein.

Mensch und Vieh und Fisch' und Vögel

halten heute diese Regel:

Niemand nicht soll traurig sein.


Ihr auch, Schöne, braucht der Süße

und der lieben Sternen Küsse,

die das Firmament euch giebt,

das für euer Glücke wachet

und euch itzt schon das zulachet,

was ihr wie euch selbsten liebt!


Und du liebster ihrer Tage,

nim hin alle Sorg' und Klage,

bringe neue Lust herfür,

daß du, wenn du kömmest wieder,

von uns hörest neue Lieder,

ihr und dir und uns zur Zier!
[335]

Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 335-336.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Gedichte
Deutsche Gedichte