94. Auf ihrer Beider Tränen

[532] Ach! ist es noch nicht Zeit, o du gesalzne Flut,

die aus vier Augen hier in einem Rinnen rinnet,

ach! ist es noch nicht Zeit, daß ihr einmal beginnet,

ihr Tränen, aus zu sein? Es muß das rote Blut


auch sein heraus geweint? Ach! tut nicht, wie ihr tut,

seid gnädig unsrer Angst, als die ihr mindern könnet,

wenn ihr zu trucknen aus nur selbsten seid gesinnet.

Ihr löscht nicht, wie ihr meint, die heiße Liebesglut.


O daß Cupido doch Register halten solte

und nur das zehnte Teil des Wassers messen wolte,

o möchte Venus nur sein Richtrin dieser Pein,


ich weiß, es würde nicht der Himmel so viel haben,

so viel an alter Lust der ganze Himmel haben,

als viel der Tropfen nun von uns vergossen seyn.


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 532.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Gedichte
Deutsche Gedichte