Achtundzwanzigstes Kapitel
Aus Renatens Tagebuch

[442] Erzählungen schließen mit Verlobung oder Hochzeit. Aber ein Tagebuch, das sich bis auf diesen Tag im Hohen-Vietzer Herrenhause vorfindet und als ein teures Vermächtnis daselbst gehütet wird, gönnt uns noch einen Blick in die weitere Zukunft. Es sind Blätter von Renatens Hand, und aus ihnen ist es, daß ich das Folgende entnehme.


»Lewin ist zurück. Ich habe nur auf diesen Tag gewartet, um, wie ich seit lange wollte, mit einem Tagebuche zu beginnen. Der Säbelhieb über die Stirn kleidet ihn gut; der weiche Zug, den er hatte, ist nun fort; Marie findet es auch. Wie war sie so glücklich! Und doch ebenso ruhig, wie sie glücklich war. Und das freute mich am meisten. Denn mir ist nichts verhaßter als Lärm; und nun gar Lärm in Gefühlen! Es traf sich[442] sonderbar, daß wir, eine Stunde vor Lewins Ankunft, den für Grell bestimmten Grabstein ausgepackt hatten. Ein kleiner Marmor. Es war nicht ohne Bewegung, daß wir Namen und Datum und die Hölderlinschen Zeilen lasen. Jeetze wollte den Stein verstecken, aber Maline sagte: ›Nein, nein, das bedeutet Glück‹, was natürlich meine gute Schorlemmer in Feuer und Flamme über die Unausrottbarkeit wendischen Aberglaubens brachte. (Lewin übernimmt Guse; sie werden dort als ein junges Paar leben. Es ist am besten so.)«


»Gestern war Hochzeit. In Bohlsdorf. Lewin hatte darauf bestanden; er wollte da getraut werden, wo sich sein Leben entschieden habe. So fuhren wir in drei Wagen hinüber. Mit uns Drosselstein und Hirschfeldt (der den Arm verloren hat, leider den rechten). Bamme war geheimnisvoll und erklärte, ›sein Brautgeschenk vorläufig vergraben zu haben‹. Aber der Tag der Auferstehung werde kommen. Die Schorlemmer über diesen Ausdruck empört, wir anderen neugierig. Seidentopf hielt die Rede; nie hat er besser gesprochen; es ist doch wahr, daß das Herz den Redner macht. Er nahm einen Bibeltext; aber eigentlich sprach er über die Zeile: ›Und kann auf Sternen gehen.‹ Nach der Trauung nahmen wir einen Imbiß auf dem Amtshofe. Die junge Frau noch hübscher geworden; wieder an Kathinka erinnert. Rückfahrt im offenen Wagen. Entzückend. Die Sommerfäden flogen und setzten sich in Mariens grünen Kranz. Es war wie ein zweiter Brautschleier. Bamme, der nur den volkstümlichen Namen dieser Fäden kannte, ereiferte sich über die ›Ungalanterie des heurigen Septembers‹, beruhigte sich aber, als ich ihm sagte, daß diese Fäden auch ›Mariengarn‹ heißen. Übrigens haben Lämmerhirt und Seidentopf Brüderschaft getrunken und wollen korrespondieren. Lämmerhirt sammelt auch Totentöpfe und ist germanisch. Also gegen Turgany.«


»Heute haben wir unseren lieben Seidentopf zur letzten Ruhe gebracht. Auch Lewin und Marie kamen von Guse herüber[443] und die drei ältesten Kinder. Sie brachten große Kränze von Flieder mit, der in diesem Jahre so schön in Guse blüht. Pastor Zabel von Dolgelin hielt die Grabrede; gutgemeint und alltäglich. Papa will es nicht wahrhaben; aber er legt immer aus seinem Eigenen zu. Auch Turgany war da; sehr bewegt. Er führte mich, als wir zurückgingen, und sagte dann in seiner Art: ›Nun kann ich diesen Landesteil unangefochten für wendisch erklären; aber ich tät es lieber nicht.‹«


»Brief von Kathinka (aus Paris). Teilnehmend, aber sehr vornehm. Wir sind ihr kleine Leute geworden. Sie kennt nur noch zweierlei: Polen und ›die Kirche‹.«


»Wir waren gestern in Guse drüben, Papa, die Schorlemmer und ich. Als wir bei Tische saßen, wurde der Seelower Gerichtsdirektor gemeldet, der ein auf dem dortigen Gerichte niedergelegtes Dokument in Person überbrachte. Aufschrift: ›An Frau Marie von Vitzewitz. Nach meinem Ableben zu Händen der Adressatin. Bamme, Generalmajor.‹ Wir öffneten und lasen. Er hat Marie sein ganzes Vermögen vermacht, alles in sehr Bammeschen Ausdrücken. Am Schlusse stand: ›Ich hab es früh erfahren, wie wenig der Schein bedeutet.‹ Marie entsann sich, Ähnliches gegen ihn geäußert zu haben. Wir gratulierten alle; nur die Schorlemmer verlangte Zurückweisung, ›es sei kein Segen daran‹. Marie aber meinte, ›dazu sei sie doch nicht fromm genug‹, worüber wir alle herzlich lachten; zuletzt auch die Schorlemmer.«


»Und nun bin ich allein, ganz allein, und morgen wird Lewin, der nun Guse verläßt, seinen Einzug in dies alte Hohen-Vietz halten, in das mir und ihm so teure Haus, in dem er gesegnet sein möge wie bisher. Und er wird es, denn er bringt seinen guten Engel mit. Meine teure Marie. Sie hat die schwerste Probe bestanden, und das Glück hat sie gelassen, wie sie war: demütig, wahr und schlicht. Und so könnt ich bleiben und weiterleben mit und unter ihnen, aber ich mag doch nicht[444] die Tante Schorlemmer ihres Hauses sein. Auch fehlen mir die Lieder und Sprüche. So will ich denn nach ›Kloster Lindow‹, unserem alten Fräuleinsstift. Da gehör ich hin. Denn ich sehne mich nach Einkehr bei mir selbst und nach den stillen Werken der Barmherzigkeit. Und nur eines ist, das ich noch mehr ersehne. Es gibt eine verklärte Welt, mir sagt es das Herz, und es zieht mich zu ihr hinauf.«


Hier schließt das Tagebuch.


Auf einer schmalen Landzunge zwischen zwei märkischen Seen liegt das adlige Stift Lindow. Es sind alte Klostergebäude: Kirche, Refektorium, alles in Trümmern, und um die Trümmer her ein stiller Park, der als Begräbnisplatz dient, oder ein Begräbnisplatz, der schon wieder Park geworden ist. Blumenbeete, Grabsteine, Fliederbüsche und dazu Kinder aus der Stadt, die zwischen den Grabsteinen spielen.


Und auf einem dieser Grabsteine stand ich und sah in die niedersteigende Sonne, die dicht vor mir das Kloster und die stillen Seeflächen vergoldete. Wie schön! Es war ein Blick in Licht und Frieden.

Im Scheiden erst las ich den Namen, der auf dem Steine stand:


Renate von Vitzewitz.

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21973, S. 442-445.
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