Achromasie

[644] Die Geschichte dieser wichtigen Entdeckung ist im Allgemeinen bekannt genug, indem sie teils in besondern Schriften, teils in Lehr- und Geschichtsbüchern öfters wiederholt worden. Uns geziemt daher nur das Hauptsächliche zu sagen; vorzüglich aber, zu zeigen, wie diese bedeutende Aufklärung einer ungeahndeten Natureigenschaft auf das Praktische einen großen, auf das Theoretische gar keinen Einfluß gewinnen können.

Von uralten Zeiten her war bekannt und außer Frage, daß Brechung auf mannigfaltige Weise ohne Farbenerscheinung stattfinden könne. Man sah daher diese, welche sich doch manchmal dazu gesellte, lange Zeit als zufällig an. Nachdem aber Newton ihre Ursache in der Brechung selbst gesucht und die Beständigkeit des Phänomens dargetan, so wurden beide für unzertrennlich gehalten.

Demungeachtet konnte man sich nicht leugnen, daß ja unser Auge selbst durch Brechung sieht, daß also, da wir mit nacktem Auge nirgends Farbensäume oder sonst eine apparente[644] Färbung der Art erblicken, Brechung und Farbenerscheinung bei dieser Gelegenheit voneinander unabhängig gedacht werden können.

Rizzetti hatte das schon zur Sprache gebracht; weil aber seine Zeit in manchem noch zurück war, weil er den nächsten Weg verfehlte und in seiner Lage verfehlen mußte, so wurde auch dieses Verhältnisses nicht weiter gedacht. Indessen war es anatomisch und physiologisch bekannt, daß unser Auge aus verschiedenen Mitteln bestehe. Die Folgerung, daß durch verschiedene Mittel eine Kompensation möglich sei, lag nahe, aber niemand fand sie.

Dem sei, wie ihm wolle, so stellte Newton selbst den so oft besprochenen Versuch, den achten seines zweiten Teils, mit verschiedenen Mitteln an und wollte gefunden haben, daß wenn in diesem Fall der ausgehende Strahl nur dahin gebracht würde, daß er parallel mit dem eingehenden sich gerichtet befände, die Farbenerscheinung alsdann aufgehoben sei.

Zuerst kann es auffallen, daß Newton, indem ihm bei parallelen sogenannten Strahlen Brechung übrig geblieben und die Farbenerscheinung aufgehoben worden, nicht weiter gegangen, sondern daß es ihm vielmehr beliebt, wunderliche Theoreme aufzustellen, die aus dieser Erfahrung herfließen sollen.

Ein Verteidiger Newtons hat in der Folge die artige Vermutung geäußert, daß in dem Wasser, dessen sich Newton bedient, Bleizucker aufgelöst gewesen, den er auch in andern Fällen angewendet. Dadurch wird allerdings das Phänomen möglich, zugleich aber die Betrachtung auffallend, daß dem vorzüglichsten Menschen etwas ganz deutlich vor Augen kommen kann, ohne von ihm bemerkt und aufgefaßt zu werden. Genug, Newton verharrte bei seiner theoretischen Überzeugung, sowie bei der praktischen Behauptung: die dioptrischen Fernröhre seien nicht zu verbessern. Es kam daher ein Stillstand in die Sache, der nur erst durch einen andern außerordentlichen Menschen wieder konnte aufgehoben werden.[645]

Euler, einer von denjenigen Männern, die bestimmt sind, wieder von vorn anzufangen, wenn sie auch in eine noch so reiche Ernte ihrer Vorgänger geraten, ließ die Betrachtung des menschlichen Auges, das für sich keine apparenten Farben erblickt, ob es gleich die Gegenstände durch bedeutende Brechung sieht und gewahr wird, nicht aus dem Sinne und kam darauf, Menisken, mit verschiedenen Feuchtigkeiten angefüllt, zu verbinden, und gelangte durch Versuche und Berechnung dahin, daß er sich zu behaupten getraute: die Farbenerscheinung lasse sich in solchen Fällen aufheben und es bleibe noch Brechung übrig.

Die Newtonische Schule vernahm dieses, wie billig, mit Entsetzen und Abscheu; im stillen aber, wir wissen nicht ob auf Anlaß dieser Eulerischen Behauptung oder aus eigenem Antriebe, ließ Chester-Morehall in England heimlich und geheimnisvoll achromatische Fernröhre zusammensetzen, so daß 1754 schon dergleichen vorhanden, obgleich nicht öffentlich bekannt waren.

Dollond, ein berühmter optischer Künstler, widersprach gleichfalls Eulern aus Newtonischen Grundsätzen und fing zugleich an, praktisch gegen ihn zu operieren; allein zu seinem eignen Erstaunen entdeckt er das Gegenteil von dem, was er behauptet; die Eigenschaften des Flint- und Crownglases werden gefunden, und die Achromasie steht unwidersprechlich da.

Bei alledem widerstrebt die Schule noch eine Zeitlang; doch ein trefflicher Mann, Klingenstjerna, macht sich um die theoretische Ausführung verdient.

Niemanden konnte nunmehr verborgen bleiben, daß der Lehre eine tödliche Wunde beigebracht sei. Wie sie aber eigentlich nur in Worten lebte, so war sie auch durch ein Wort zu heilen. Man hatte die Ursache der Farbenerscheinung in der Brechung selbst gesucht; sie war es, welche diese Ur-Teile aus dem Licht entwickelte, denen man zu diesem Behuf eine verschiedene Brechbarkeit zuschrieb. Nun war aber bei gleicher Brechung diese Brechbarkeit sehr verschieden, und nun faßte[646] man ein Wort auf, den Ausdruck Zerstreuung, und setzte hinter diese Brechung und Brechbarkeit noch eine von ihr unabhängige Zerstreuung und Zerstreubarkeit, welche im Hinterhalt auf Gelegenheit warten mußte, sich zu manifestieren; und ein solches Flickwerk wurde in der wissenschaftlichen Welt, soviel mir bekannt geworden, ohne Widerspruch aufgenommen.

Das Wort Zerstreuung kommt schon in den ältesten Zeiten, wenn vom Licht die Rede ist, vor. Man kann es als einen Trival-Ausdruck ansehen, wenn man dasjenige, was man als Kraft betrachten sollte, materiell nimmt und das, was eine gehinderte, gemäßigte Kraft ist, als eine zerstückelte, zermalmte, zersplitterte ansieht.

Wenn ein blendendes Sonnenlicht gegen eine weiße Wand fällt, so wirkt es von dort nach allen entgegengesetzten Enden und Ecken zurück, mit mehr oder weniger geschwächter Kraft. Führt man aber mit einer gewaltsamen Feuerspritze eine Wassermasse gegen diese Wand, so wirkt diese Masse gleichfalls zurück, aber zerstiebend und in Millionen Teile sich zerstreuend. Aus einer solchen Vorstellungsart ist der Ausdruck Zerstreuung des Lichts entstanden.

Je mehr man das Licht als Materie, als Körper ansah, für desto passender hielt man diese Gleichnisrede. Grimaldi wird gar nicht fertig, das Licht zu zerstreuen, zu zerbrechen und zu zerreißen. Bei Rizzetti findet auch die Dispersion der Strahlen, mit denen er operiert, jedoch wider ihren Willen und zu ihrem höchsten Verdrusse statt. Newton, bei dem die Strahlen ja auch auseinander gebrochen werden, brauchte diesen und ähnliche Ausdrücke, aber nur diskursiv, als erläuternd, versinnlichend; und auf diese Weise wird jenes Wort herangetragen, bis es endlich in dem neu eintretenden unerwarteten Notfalle aufgeschnappt und zum Kunstworte gestempelt wird.

Mir sind nicht alle Dokumente dieses wichtigen Ereignisses zuhanden gekommen, daher ich nicht sagen kann, wer sich zuerst so ausgedrückt. Genug, dieses Kunstwort ward[647] bald ohne Bedenken gebraucht und wird es noch, ohne daß irgend jemanden einfiele, wie durch jene große Entdeckung das Alte völlig verändert und aufgehoben worden. Man hat mit diesem Pflaster den Schaden zugedeckt; und wer in der Kürze einen eminenten Fall sehen will, wie man mit der größten Gemütsruhe und Behaglichkeit einen neuen Lappen auf ein altes Kleid flickt, der lese in den Anfangsgründen der Naturlehre von Johann Tobias Mayer die kurze Darstellung von der Theorie der Farben, besonders vergleiche man den 630. und 635. Paragraphen. Wäre dies ein alter Autor, so würden die Kritiker sich mit der größten Sorgfalt nach andern Codicibus umsehen, um solche Stellen, die gar keinen Sinn haben, mit Bedacht und Vorsicht zu emendieren.

Die Lehre mag sich indessen stellen, wie sie will, das Leben geht seinen Gang fort. Achromatische Fernröhre werden verfertigt, einzelne Männer und ganze Nationen auf die Eigenschaften der verschiedenen Glasarten aufmerksam. Clairault in Frankreich bedient sich der sogenannten Pierres de Stras statt des Flintglases, und die Entdeckung lag ganz nahe, daß der Bleikalk dem Glase jene Eigenschaft, die Farbensäume disproportionierlich gegen die Brechung zu verbreitern, mitteilen könne. Zeiher in Petersburg machte sich um die Sache verdient. Was Boscovich und Steiner getan, um diese Angelegenheit theoretisch und praktisch zu fördern, bleibt unvergessen.

Le Baude erhielt in Frankreich 1773 den Preis für eine Glasart, die dem Flint nahe kam. Dufougerais hat zu unserer Zeit in seiner Manufaktur zu Mont-Cenis ein Glas verfertigt, wovon ein Prisma zu zehn Graden mit einem Prisma von Crownglas zu achtzehn Graden zusammengestellt, die Farbenerscheinung aufhebt.

Von dieser Glasart liegt noch eine große Masse vorrätig, und es ist zu wünschen, daß ein Teil derselben von den französischen Optikern zu Prismen von allen Winkeln genutzt und zum Besten der Wissenschaft in einen allgemeinen Handelsartikel verwandelt werde.[648]

Das Weitere und Nähere, was diese wichtige Epoche betrifft, ist in Priestleys Geschichte der Optik nachzuschlagen, wobei die Klügelschen Zusätze von großer Bedeutung sind. Übrigens ist Priestley, hier wie durchaus, mit Vorsicht zu lesen. Er kann die Erfahrung, er kann die großen, gegen Newton daraus entspringenden Resultate nicht leugnen, gibt aber ganz gewissenlos zu verstehen: Euler sei durch einen Wink Newtons angeregt worden, als wenn jemand auf etwas hinwinken könnte, was er aufs hartnäckigste leugnet, ja was noch schlimmer ist, von dessen Möglichkeit er gar keine Spur hat! Unser, in diesem Falle sowie in andern geradsinnige Klügel läßt es ihm auch nicht durchgehen, sondern macht in einer Note aufmerksam auf diese Unredlichkeit.

Quelle:
Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 1–24 und Erg.-Bände 1–3, Band 16, Zürich 1948 ff, S. 644-649.
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